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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Koalitionsvertrag
Die neue Allianz von Wachstum und Klimaschutz

Der Ampel-Koalitionsvertrag macht Schluss mit De-Growth-Phantasien. Das ist eine riesige Chance für Deutschland.
Christian Lindner, Parteivorsitzender der FDP (l-r), Olaf Scholz, SPD-Kanzlerkandidat und geschäftsführender Bundesfinanzminister, Annalena Baerbock, Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, Norbert Walter-Borjans, Bundesvorsitzender der SPD und Saskia Esken, Bundesvorsitzende der SPD.
© picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Der Koalitionsvertrag steht schneller als gedacht. Inmitten der Pandemie demonstrieren SPD, Grüne und FDP Entschlossenheit. Das Signal: „Seht her, wir sind startklar, auch weil die äußeren Umstände eine zügige Regierungsbildung verlangen.“ Mit Blick auf eine Pandemielage, die sich dramatisch zuspitzt, betonen alle künftigen Regierungspartner: Die Booster-Impfung muss endlich laufen; die Impfkampagne muss vorankommen; und die neuen Maßnahmen - 2G im öffentlichen Leben, 3G am Arbeitsplatz und in den öffentlichen Verkehrsmitteln - müssen konsequent umgesetzt werden. Ob das ausreichen wird? Niemand kann dies voraussagen. Wenn nicht, dann sind die künftigen Koalitionspartner offen für Nachschärfungen.

Jenseits dessen steht die neue Regierung vor großen langfristigen Aufgaben. Auch darin sind sich alle Beteiligten einig. Der Ort der Vorstellung des Koalitionsvertrages hatte schließlich Symbolkraft: In einer zum Convention Center umgebauten Werkshalle im Westhafen von Berlin wurde die Ampelkoalition der Öffentlichkeit vorgestellt. Das passte zum Titel des abgeschlossenen Vertrags: „Mehr Fortschritt wagen: Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit“. Ein Zukunftsprojekt für Deutschland: voller Baustellen und voller Risiken. Ein mutiger Versuch, die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen.

Der Koalitionsvertrag – ein Dokument von 6.018 Zeilen auf 177 Seiten – ist natürlich keine vergnügliche Lektüre. Dem Text merkt man beim Lesen an, dass er in endlosen Sitzungen bis tief in die Nächte des Novembers als Kompromiss entstanden ist. Kein Wunder, kommen doch die drei beteiligten Parteien aus unterschiedlichen Kernrichtungen der politischen Philosophie, die sich ja auch im Untertitel des Dokuments alphabetisch aufgereiht finden: Die FDP steht für Freiheit, die SPD für Gerechtigkeit, die Grünen für Nachhaltigkeit, so jedenfalls das Selbstverständnis der drei beteiligten Parteien, die jetzt zu Partnern werden – die Wählerinnen und Wähler haben es so gewollt.

Wachstum und Klimaschutz

Gibt es eine Kernbotschaft des Vertrags? Die Antwort ist: Ja, die gibt es, und das ist schon etwas Positives, denn es hebt das Vertragswerk heraus aus der Masse belangloser politischer Absichtserklärungen, in denen enumerativ dies und das und jenes versprochen wird, ohne dass es sich zu einer Leitlinie addiert. Im Ampel-Koalitionsvertrag ist dies ganz anders, denn die Leitlinie ist – bei aller Fülle der Themen – sonnenklar: Diese Koalition will den Klimaschutz, aber sie will ihn durch innovatives Wachstum erreichen und nicht durch Verzicht und De-Growth. Vor allem Grüne und FDP haben diesen Stempelabdruck des Vertrags zu verantworten: Die Grünen den hohen Stellenwert der Querschnittsaufgabe „Klimapolitik“, die FDP den deutlichen Schwerpunkt auf Wachstum. Wie in einem intellektuellen Puzzle sind beide Grundrichtungen komplementär und passen zueinander, wie so manche Vertreter beider politischer Familien seit Langem betonen.

Es gibt deshalb auch keine Gewinner und Verlierer. Die Reaktion von Links- und Rechtsaußen des politischen Spektrums lieferte dafür die prompte Bestätigung. Die Linke wetterte, es handele sich um ein FDP-Programm. Die AfD fluchte über eine vermeintlich grüne Dominanz. Aufschlussreich auch die Kritik aus der CDU-Fraktion, wo man sich auf das Standardargument kaprizierte, dass die Finanzierbarkeit des Programms nicht gesichert sei.

An diesen eher konventionellen Statements ist nur eines richtig: Es bleiben Risiken des Vollzugs, wie bei jedem Programm. Und es hängt entscheidend davon ab, wie die drei Koalitionspartner im täglichen Geschäft miteinander kooperieren. Der Start war jedenfalls in zweierlei Hinsicht nicht schlecht: Zum einen erwies sich die Verhandlungsführung als außerordentlich diskret; fast nichts aus dem riesigen Kreis der Beteiligten drang nach außen zum respektvollen Leidwesen der Medien. Zum Zweiten folgt die Ressortverteilung in kluger Weise den programmatischen Schwerpunkten: Die Umsetzung des Klimaprogramms findet sich im Schwerpunkt in grüner Hand, die Stellschrauben für Innovationskraft und Wachstum sowie finanzpolitische Stabilität in FDP-geführten Ressorts und die Zuständigkeit für Soziales und Arbeit sowie Staatsaufgaben der Sicherheit bei der SPD. Das passt. Alles Weitere wird sich zeigen.

Politische Welt der Kompromisse

Von zentraler Bedeutung ist vor allem die gegenseitige weltanschauliche Anerkennung von FDP und Grünen. Die beiden Parteien erzielten zusammen bei Erstwählern 46 Prozent, und zwar vor allem, weil sie in sich konsistente Zukunftsprogramme vorlegten: die Grünen mit ökologischen und die FDP mit ökonomischen Schwerpunkten. Das ist ein Durchbruch – weg von früherer Polemik auf beiden Seiten. Und es ist ganz offensichtlich im Interesse der jungen Generation. Auch für die Demokratie ist es von überragender Bedeutung: Wenn Deutschland aus der Mitte heraus regiert werden soll, dann geht dies nur durch die Zusammenführung genau dieser weltanschaulichen Grundlinien. Wohlgemerkt: in einem Zweckbündnis, nicht in einer Liebesheirat. Die Grundpositionen bleiben – als Pfeiler der Glaubwürdigkeit in der politischen Welt der Kompromisse.

Der Rest ist Praxis. Man wird sehen, ob die klimapolitischen Ziele vom zeitnahen Kohleausstieg und dem Ausbau der Erneuerbaren Energien bis zum Verzicht auf den Verbrennungsmotor tatsächlich erreicht werden können. Und man wird sehen, ob Innovationskraft und Wachstum trotz ungünstiger demografischer Entwicklung durch Sonderabschreibungen, Förderung der Gründerkultur und Einwanderung von Fachkräften sowie Reformen des Sozialstaats gestärkt werden können. Und man wird sehen, ob für alle dies das Geld reicht, wobei die jüngste Steuerschätzung einmal mehr zeigte, dass die Erholung nach einem tiefen Einbruch – wie zuletzt nach der Finanzkrise – viel mehr Einnahmen in die Kassen spült, als im Vorhinein von Fiskalpessimisten erwartet wurde. Prognosen für die Zeit nach Corona sind extrem schwierig, aber die Lehren aus der Vergangenheit keineswegs entmutigend.

So ist eben Politik: riskant und unsicher. Immerhin liegt jetzt ein anspruchsvolles Programm vor, das die Epoche beenden könnte, in der Deutschland systematisch von der Substanz gelebt hat – ökonomisch, sozial und ökologisch. Man ist geneigt auszurufen: „Bitte anschnallen! Es wird ein holpriger Weg.“ Aber wenigstens wissen wir, in welche Richtung wir fahren.