Krieg in Europa
Bitte keine Krokodilstränen!
Es war genau ein Jahr vor dem Überfall Putins auf die Ukraine: Am 24. Februar 2021 fand im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestags eine Anhörung zum Für und Wider von Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland statt – seinerzeit noch wegen der Krim-Annexion 2014. Die sogenannten Experten, nominiert von den Fraktionen des Deutschen Bundestags, vertraten mit großer Mehrheit sanktionskritische Positionen. Der Verfasser erinnert sich gut daran, weil er selbst – zusammen mit Dr. Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik (nominiert von den GRÜNEN) – als Sachverständiger (nominiert von der FDP) praktisch alleinstand als Befürworter einer harten Linie gegenüber Moskau. In der Diskussion überwog – auch bei den Rückfragen der Abgeordneten – ganz eindeutig das nachdrückliche Plädoyer für den Dialog bei großer Skepsis gegenüber einer „Bestrafung“ von Putins Russland.
Den Verfasser überraschte dies nicht im Geringsten, denn es spiegelte nicht viel mehr wider als die allgemeine öffentliche Meinung. Die vorsichtige Diplomatie gegenüber Putin, die von der deutschen Politik seit zwei Jahrzehnten praktiziert wurde, fand weithin positiven Anklang – ganz anders als der als ruppig empfundene Umgang Amerikas mit Russland. Die Kritik an der deutschen Position, die vor allem im östlichen Mitteleuropa im Zusammenhang mit Nord Stream 2 laut wurde, fand dagegen hierzulande wenig Resonanz – buchstäblich bis zum Kriegsbeginn am 24. Februar 2022.
Im Gegenteil, wenn es für die deutsche Politik laute und prominente Schelte gab, dann mit genau gegenteiliger Stoßrichtung. So publizierte Klaus von Dohnanyi noch im November 2021, also vor wenigen Wochen, eine schneidend kritische Analyse der deutschen Ostpolitik seit 1990, in der er die NATO-Osterweiterung als Kardinalfehler geißelte und für eine europäische Annäherung an Russland ohne Rücksicht auf die USA plädierte – mit dem Ziel einer stabilen europäischen Sicherheitsarchitektur. Die Sicherheitsinteressen und -ängste der Menschen im östlichen Mitteleuropa wurden dabei kaum erwähnt. Dohnanyis Buch landete sogleich auf der Bestsellerliste des SPIEGEL und befindet sich derzeit in der vierten (!) Auflage.
Kurzum: Es kann gar nicht die Rede davon sein, dass sich die deutsche Öffentlichkeit und Politik einfach nur in Putin „geirrt“ hat. Nein, es wurde systematisch über zwei Jahrzehnte die Rolle Russlands als eine Art imperialer Macht im Stil des 19. Jahrhunderts geflissentlich übersehen oder schlimmer noch, implizit akzeptiert. Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Es hat deshalb etwas fast Groteskes, wenn Bundespräsident Steinmeier auf eine freche, polemische und überscharfe Kritik des ukrainischen Botschafters Melnyk am vergangenen Wochenende sogleich in peinlicher Eilfertigkeit am Montag dieser Woche erklärt, er habe sich – genau wie das politische Establishment – in Putin getäuscht: mea culpa, mea maxima culpa! Man ist an das treffende französische Sprichwort erinnert: „Qui s’accuse, s’excuse.“ (Wer sich anklagt, entschuldigt sich.) Damit steht Frank-Walter Steinmeier natürlich nicht allein. So ließ Wolfgang Schäuble jüngst mit Blick auf Putin wissen: „Ich lag falsch, wir alle lagen falsch.“
So viel schamvolle Selbstanklage ist verdächtig. Kritische Beobachter vor allem aus Mittel- und Osteuropa werden sich zu Recht fragen, was genau mit solchen Schuldbekenntnissen gemeint ist. Denn diese beziehen sich zumeist nur auf die persönliche Einschätzung von Wladimir Putin und dessen näherer Umgebung, nicht aber auf die deutsche Gesamtstrategie gegenüber Russland – vor allem: nicht auf das Fehlen einer konsistenten Politik der Eindämmung. So hat Angela Merkel erst jüngst trotzig erklären lassen, die Entscheidung gegen eine Aufnahme der Ukraine in die NATO, die 2008 im Einvernehmen Frankreichs und Deutschlands, aber gegen den Willen von George W. Bush beim Bukarester Gipfel gefällt wurde, sei richtig gewesen. Das mag man ja so beurteilen, gerade auch wenn man den damaligen US-kritischen und fast Bush-feindlichen Zeitgeist in Rechnung stellt, der vor allem aus dem linken politischen Spektrum bis tief in die bürgerlichen Reihen hineinwehte. Es bleibt aber die Frage: Steinmeier, Schäuble, Merkel …, ist das denn schon alles an selbstkritischer Analyse der eigenen Fehleinschätzungen, was die deutsche Politik zu bieten hat? Oder gibt sie endlich der deutschen Öffentlichkeit einen Anstoß, über unser (abgestuftes) Verhältnis zu allen mittel- und osteuropäischen Nachbarn und deren Sicherheitsinteressen neu nachzudenken?
Kurzum: Deutschland und seine politische Klasse müssen aufpassen, nicht von einem schweren Fehler in den nächsten zu taumeln. Wer glaubt, wie die Deutschen in den westlichen Werten fest verwurzelt zu sein, der muss auch die Bereitschaft haben, mehr zu liefern als oberflächliche Selbstbezichtigung. Wir brauchen keine Krokodilstränen, sondern kluge Konzepte.