Krieg in Europa
Strafanzeige benennt konkrete Tatverdächtige und Taten
In dem Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine gibt es inzwischen eine Fülle von internationalen und nationalen Institutionen und Organisationen, die versuchen, Beweise für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sichten und zu sammeln. Hierzu gehört auch der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der ein sogenanntes Strukturverfahren eingeleitet hat. Dessen Sinn besteht gerade darin, Beweise zusammenzutragen.
Das Strukturverfahren hat keine konkreten Strafverfahren gegen bestimmte Tatverdächtige zum Gegenstand, sondern dient lediglich der Beweissicherung, dass irgendwann einmal ein konkretes Ermittlungsverfahren eingeleitet werden sollte. Die Strafanzeige von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Gerhart Baum vom 6. April 2022 verlässt das Stadium der bloßen Beweissammlung und geht dagegen einen wesentlichen Ermittlungsschritt weiter.
Zuständigkeit der deutschen Justiz
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Strafjustiz ergibt sich aus § 1 Satz 1 Völkerstrafgesetzbuch. Die bereits angekündigten und inzwischen aufgenommenen Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) stehen dem nicht entgegen, denn die Zuständigkeit des IStGHs besteht subsidiär gegenüber jedem Staat, „der Gerichtsbarkeit hat“.
Die Zuständigkeit der deutschen Strafjustiz aufgrund des Weltrechtsprinzips ist zwar ihrerseits nachrangig hinter nationalen Zuständigkeiten aufgrund von Personalität- und Territorialitätsprinzip. Jedoch kann seitens der Russischen Föderation eine Verfolgung derzeit als ausgeschlossen gelten, da die russischen Behörden nicht willens sein werden, irgendeine Verhaltensweise russischer oder russisch kontrollierter Truppen unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zu betrachten.
Mit der Strafanzeige sollen die Bedeutung und die Notwendigkeit dieser Ermittlungen unterstrichen werden. Es darf keine Straflosigkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben. Nirgendwo dürfen sich Kriegsverbrecher sicher fühlen. Dazu beizutragen ist auch eine Verpflichtung Deutschlands gegenüber den schon jetzt zahllosen zivilen Opfern der unvorstellbaren Gräueltaten.
Konkrete Sachverhalte als Grundlage
In der Strafanzeige werden 10 exemplarisch ausgesuchte Sachverhalte dargestellt: die zahlreichen zivilen Opfer, die Angriffe auf das Theater in Mariupol am 16.03.2022, die Tötung von Zivilisten in Butscha, der Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja, der Angriff auf die Kinder- und Entbindungsklinik in Mariupol, die Angriffe auf die Errichtung „ Humanitärer“ Korridore in Richtung Belarus und der Russischen Föderation, die Gefangennahme von Zivilisten in Hostomel bei Kiew und der Einsatz von Streumunition auf Vuhledar ( Donezk ), Okhtyrka, Kharkiv und Odessa. Die zahlreichen angehängten Dokumente, Berichterstattungen und Bilder von zerstörten zivilen Fahrzeugen und Gebäuden sollen bei der Beweissicherung helfen.
Tatverdächtige werden benannt
Die Strafanzeige nennt soweit erkennbar erstmals konkrete Verantwortliche auf allen Kommandoebenen für im Detail beschriebene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Neben den Mitgliedern des russischen Sicherheitsrates mit seinem Vorsitzenden Wladimir Putin werden viele Befehlshaber der russischen Streitkräfte und Angehörige verschiedener Einheiten der russischen Streitkräfte benannt. Die Aufzählung der genannten Personen und von Einheiten der russischen Streitkräfte mit den jeweiligen Kommandeuren ist nicht abschließend und stellt nur einen Ausschnitt in Betracht kommender Beschuldigter dar. Die Angaben zu den verschiedenen beteiligten Einheiten und deren Kommandeure sind im Internet frei zugänglich. Auf der Internetseite des Nachrichtendienstes des ukrainischen Verteidigungsministeriums (gur.gov.ua) werden in regelmäßigen Abständen (in ukrainischer und russischer Sprache, nicht zusätzlich auf Englisch) komplette Listen der Angehörigen der Einheiten russischer Streitkräfte veröffentlicht, die in Verdacht stehen, Kriegsverbrechen auf dem Gebiet der Ukraine begangen zu haben. Die Listen enthalten Namen, Dienstgrad, militärische Kennnummer, ausgeübte Tätigkeit in den Streitkräften sowie Geburtsdatum. Es wird angeregt, die dortigen Listen in den Ermittlungen besonders in den Blick zu nehmen.
Fazit
Mit den in der Strafanzeige dargestellten Sachverhalten, den dazu beigefügten Unterlagen und den umfangreichen Informationen zu Befehlshabern und militärischen russischen Einheiten können die Ermittlungen gegen Beschuldigte vorangetrieben werden. Das Ziel sollten Haftbefehle gegen mögliche Täter in der militärischen Befehlskette sein, die ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlen werden. Der IStGH konzentriert sich auf Ermittlungen gegen Staatsoberhäupter und einige wenige Führungspersonen. In diesem arbeitsteiligen Vorgehen zur Sicherung von Beweisen liegt die Chance, das Völkerstrafrecht auch durchzusetzen. Die nationalen Verfahren, wie sie auch in Frankreich betrieben werden, sind dabei unverzichtbar und bedürfen der politischen Rückendeckung.