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Ecuador
Ecuador im Ausnahmezustand

Wahlen, Unsicherheit und Ermordung eines Präsidentschaftskandidaten
Fernando Villavicencio (Mitte) auf einer Wahlveranstaltung kurz bevor er am selben Tag erschossen wurde.

Fernando Villavicencio (Mitte) auf einer Wahlveranstaltung kurz bevor er am selben Tag erschossen wurde.

 

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Ecuador ist seit Jahren zutiefst gespalten. Daran hat auch der 2021 gewählte liberal-konservative Präsident Guillermo Lasso nichts ändern können. Lasso hat am 17. Mai auf ein Amtsenthebungsverfahren hin die Nationalversammlung, das ecuadorianische Parlament, aufgelöst und ist von seinem Amt zurückgetreten. Diese ungewöhnliche, aber verfassungsmäßige Maßnahme sollte den Weg für umfassende Neuwahlen freimachen, die für den 20.08.2023 terminiert sind. Der Wahlkampf hat nun die Unsicherheit im Land dramatisch verschärft: die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten  Fernando Villavicencio, einem Journalisten und ehemaligen Mitglied der Nationalversammlung von Ecuador, gerade einmal 11 Tage vor den Präsidentschaftswahlen hat das Land in eine tiefe Krise gestürzt.

Ein Mord, der das Land erschüttert

Der Mord an Fernando Villavicencio, einem Präsidentschaftskandidaten, der für sein Engagement im Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität bekannt war, hat Ecuador tief erschüttert. Am 9. August 2023 wurde Villavicencio während einer Wahlkampfveranstaltung in Quito auf brutale Weise ermordet. Dieses tragische Ereignis hinterließ nicht nur in seiner politischen Bewegung, sondern im gesamten Land Schock und Trauer.

Die Täterschaft des Mords an Villavicencio wird der kriminellen Gruppierung "Los Lobos" zugeschrieben. Dennoch wird die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung aufgrund widersprüchlicher Informationen von verschiedenen Quellen angezweifelt. Der Kontext des ansteigenden Verbrechens und Drogenhandels in Ecuador hat ein Klima geschaffen, das Gewalt und Unsicherheit begünstigt. Die Präsenz verschiedener krimineller Banden, die um Territorien und Ressourcen kämpfen, hat zu einem alarmierenden Anstieg der Mordrate im Land geführt.

Einen Tag vor seinem Tod hatte Villavicencio die Staatsanwaltschaft aufgesucht, um eine Anzeige gegen Mafiagruppen zu erstatten. Auch seine öffentlichen Aussagen gegen einen der Hintermänner der Gefängnismafia waren bekannt. Während seiner Wahlkampagne betonte Villavicencio, dass er trotz Empfehlungen, eine kugelsichere Weste zu tragen, seinen Wahlkampf "mit verschwitztem Hemd" führen wollte. Die Nachricht von seinem Mord löste umfassende Abscheu und Verurteilung seitens der politischen Klasse und der Bevölkerung aus. Andere Präsidentschaftskandidaten wie Yaku Pérez, Luisa González, Jan Topić, Xavier Hervas, Bolívar Armijos und Otto Sonnenholzner verurteilten die Tat und setzten als Zeichen der Trauer ihre öffentlichen Aktivitäten aus.

Präsident Guillermo Lasso rief im Bemühen, die Lage nicht eskalieren zu lassen, einen 60-tägigen Ausnahmezustand im Land aus. Dies führte zur Entsendung von Militärkräften in verschiedene Regionen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Wahlen in einer vergleichsweise sicheren Umgebung stattfinden können. Diese Maßnahme hat jedoch auch Kontroversen und Debatten über ihre Effektivität und Notwendigkeit hervorgerufen.

Organisierte Kriminalität: Das große Problem Ecuadors

Die Eskalation der Gewalt in Ecuador in den letzten Jahren, die weitgehend mit dem Drogenhandel und der Einmischung u.a. von mexikanischen und anderen Kartellen zusammenhängt, hat zu einem alarmierenden Anstieg der Mordrate im Land geführt: Diese ist laut offiziellen Quellen von 7,78 im Jahr 2020 auf 26,68 im Jahr 2022 angestiegen und beträgt derzeit 16,2 (bis zum 6. Juni 2023; pro 100.000 Einwohner). Von Bedeutung ist auch die Tatsache, dass am 24. Juli der Bürgermeister von Manta, Agustín Intriago, einem tödlichen Angriff zum Opfer fiel. Er wurde von sechs Schüssen in die Brust getroffen, als er eine öffentliche Baustelle besuchte. Ebenfalls wurde am 14. August in der Provinz Esmeraldas ein Mitglied der Partei Revolución Ciudadana („Partei der Staatsbürgerlichen Revolution“), Pedro Briones, ermordet.

Die Inkompetenz der Regierungen, dieses Problem einzudämmen, zeigt sich noch deutlicher in der Serie von Gefängniskrisen in den letzten Jahren. Bei einem jüngsten Angriff in der Penitenciaría del Litoral wurden 31 Insassen im Zuge der Gewalt zwischen kriminellen Banden getötet. Die Situation löste Reaktionen in anderen Gefängnissen des Landes aus, darunter Meutereien, Geiselnahmen von Gefängnispersonal und Hungerstreiks. Die Penitenciaría del Litoral wurde besonders stark betroffen, mit 257 getöteten Insassen in 14 Massakern innerhalb eines Zeitraums von 28 Monaten.

Nach dem Mord an Villavicencio: Neuer Kandidat und freier Platz im Präsidentschaftswettbewerb

Der Mord an Villavicencio hinterließ nicht nur eine Lücke im Wahlkampf, sondern entfachte auch eine Diskussion darüber, wer seinen Platz bei den vorgezogenen Wahlen einnehmen würde. Die politische Bewegung „Construye" („Baue“), der Villavicencio angehörte, ernannte den Journalisten Christian Zurita als Ersatzkandidaten für das Präsidentenamt anstelle von Fernando Villavicencio. Über einen Zeitraum von 15 Jahren arbeiteten Zurita und Fernando Villavicencio eng zusammen. Neben ihrer Tätigkeit in den Medien führten beide umfangreiche Untersuchungen über Korruption und organisierte Kriminalität in Ecuador durch. In seinen Aussagen gegenüber der Presse betonte Zurita, dass der Regierungsplan und die Ideen von Villavicencio unverändert bleiben und zu seiner Erinnerung umgesetzt werden sollen. Zurita verwies auf geplante Maßnahmen gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität als Teil seiner Strategie zum Schutz Ecuadors. In der Debatte am 13. August wurde symbolisch ein leerer Stuhl mit einem schwarzen Band aufgestellt, um an Villavicencio zu erinnern.

Die Hauptkandidaten und das Wahlpanorama

Insgesamt wurden acht Kandidatenteams beim Nationalen Wahlrat für diese außergewöhnlichen Wahlen registriert. Am 20. August werden die Ecuadorianer einen Präsidenten, Vizepräsidenten und 137 Abgeordnete wählen – 15 nationale, 116 regionale und 6 aus dem Ausland. In Ecuador erfolgt die Wahl des Präsidenten und des Vizepräsidenten nach einem direkten Wahlsystem. Der gewählte Kandidat muss entweder einen Stimmenanteil über 50% erhalten oder mehr als 40% der Stimmen und einen Vorsprung von mindestens 10% vor dem nächsten Kandidaten aufweisen, um im ersten Wahlgang zu gewinnen. Wenn keiner der Kandidaten dies erreicht, werden am 15.Oktober die beiden stimmenstärksten Kandidaten eine Stichwahl bestreiten. Die Gewählten werden die verfassungsgemäße Amtsperiode von 2021 bis 2025 abschließen.

Diese Wahlen stellen das erste außergewöhnliche Wahlereignis seit 1940 dar und markieren gleichzeitig einen historischen Wendepunkt, indem sie gemäß Artikel 148 der Nationalverfassung, auch als "muerte cruzada" bekannt (auf Deutsch: „Überkreuzter Tod“, da Präsident und Parlament gleichzeitig abgelöst werden) einberufen wurden. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Natur werden diese Wahlen einem verkürzten Verfahren folgen. Die neu gewählte Präsidentin oder der neu gewählte Präsident sowie der/die neue/r Vizepräsident/in werden ihre Amtszeit am 25. November 2023 antreten.

Unter den acht Kandidaten zeichnet sich Yaku Pérez (Alianza Claro que se puede „Bündnis Klar, dass es möglich ist“), ein indigener Anwalt, der den dritten Platz bei den Wahlen von 2021 belegte, auf der linken Seite aus. Ebenfalls auf der linken Seite finden wir Luisa González (Revolución Ciudadana „Staatsbürgerliche Revolution“), die den Sozialismus des 21. Jahrhunderts repräsentiert und während der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Rafael Correa verschiedene Ämter innehatte. Außerdem vertritt Bolivar Armijos (Movimiento AMIGO „Bewegung Freunde“), der in der Vergangenheit ebenfalls mit Correa in Verbindung stand, linksgerichtete Strömungen. Allerdings zeichnet er sich durch eine stärkere religiöse Ausrichtung aus und steht näher zu konservativen Abtreibungsgegner-Bewegungen.

Im politischen Spektrum des Zentrums verkörpert Daniel Noboa (Alianza Democrática Nacional, ADN „das nationale demokratische Bündnis“) das politische Mittelfeld. In derselben Richtung bewegt sich die Bewegung "Construye", die ursprünglich vom verstorbenen Kandidaten Fernando Villavicencio geleitet wurde und nun von Christian Zurita vertreten wird. Diese Bewegung hat in der Vergangenheit zwischen dem mittleren linken und mittleren rechten Spektrum geschwankt und sowohl Allianzen mit der Linksregierung Correa als auch mit der Regierung von Lasso gebildet. Eine ähnliche Position vertritt Xavier Heras, der 2021 für das Zentrum links der Mitte angetreten ist und nun für die Bewegung RETO („Herausforderung“) kandidiert, die näher am politischen Zentrum rechts der Mitte steht.

Im rechten politischen Spektrum präsentieren sich zwei Kandidaten: zum einen Otto Sonnenholzner (Actuemos „Wir handeln“), der Vizepräsident während der Amtszeit von Lenin Moreno war und die Kandidatur des abtretenden Präsidenten Lasso bei den Wahlen von 2021 unterstützte und zum anderen Jan Topić (Por un país sin miedo „Für ein angstlose Land“), ein ecuadorianisch-französischer Kandidat. Diese Kandidaten nahmen an der Präsidentschaftsdebatte am Sonntag, dem 13. August, teil. Die ersten Eindrücke der Debatte wurden von den Medien als rau, konfrontativ und ohne klare Ideen charakterisiert.

Derzeitigen Umfrageergebnissen zufolge befindet sich Luisa González (Revolución Ciudadana) in einer aussichtsreichen Position. Trotzdem könnten die bekannten Spannungen zwischen dem ehemaligen Präsidenten Correa und dem ermordeten Kandidaten Villavicencio der Kandidatin González Stimmen kosten. Dennoch wird erwartet, dass diese Kandidatin in die Stichwahl einzieht. Ein einfacher Durchschnitt der letzten Wahlumfragen im August zeigt, dass sie eine Unterstützung von 30,8% genießt. Auf den weiteren Plätzen folgen Jan Topić (Por un país sin miedo) mit 12,4%, Yaku Perez (Alianza Claro que se puede) mit 10,2%, der verstorbene Fernando Villavicencio von der "Construye"-Bewegung (10,1%) sowie Otto Sonnenholzner (Actuemos) mit 9,9%. Angesichts dieser Konstellation stellt sich die Frage, welcher Kandidat Luisa González in die Stichwahl begleiten wird.

Ecuador vor schwerwiegenden Herausforderungen

Die Krise in Ecuador ist die vorläufige Kulmination eines Prozesses der politischen Destabilisierung des Landes, an dem der langjährige frühere Präsident Correa maßgeblichen Anteil hat. Sie veranschaulicht aber auch deutlich die schwerwiegenden Herausforderungen, mit denen die meisten lateinamerikanischen Demokratien zu kämpfen haben: Polarisierung, politische Gewalt, Korruption, illegale Finanzierung von Wahlkampagnen und begrenzte institutionelle Kapazitäten zur Durchsetzung von Regeln und Gesetzen und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit. Aus dem Versuch, einen politischen Neuanfang in Ecuador zu ermöglichen, ist nun eine weitere Verschärfung der tiefen Krise des Landes geworden, und es ist zugleich ein Menetekel für die anderen Länder Lateinamerikas. Wenn sich die politischen Eliten angesichts dieses Schocks nicht weiter der Einsicht verschließen würden, dass die verschärfte Polarisierung auf Dauer katastrophale Folgen hat, wäre viel gewonnen. Allzu große Hoffnungen sollte man sich aber nicht machen.

 

Niome Hüneke-Brown ist Projektleiterin des Projektbüros Andenländer der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Lima, Peru.