Wirtschaftskrise im Libanon
Ist die Marktwirtschaft gescheitert?
2023 feiert der Libanon 80 Jahre Unabhängigkeit. Zum Feiern ist allerdings kaum jemandem zumute, zu hoffnungslos ist die aktuelle wirtschaftliche und politische Lage. Als der Zedernstaat 1943 nach Jahrhunderten als Teil des Osmanischen Reichs und einigen Jahren als französisches Protektorat schließlich seine Souveränität erlangte, waren die Hoffnungen groß. Das kleine Land hatte schon während des Zweiten Weltkrieges große wirtschaftliche Fortschritte erzielen können, und diese Erfolgsgeschichte setzte sich zunächst auch nach Kriegsende fort. Eine lockere laissez-faire-Politik begünstigte eine florierende Wirtschaft und brachte dem Land den Beinamen „Schweiz des Nahen Ostens“ ein. Dies änderte sich mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges 1975, es folgten 15 wirtschaftlich und gesellschaftlich schwere Jahre. Doch nach dem Kriegsende stieg die kleine Volkswirtschaft wie ein Phönix aus der Asche wieder auf. Es waren Jahre mit hohem Wachstum und stabiler Währung – doch das Wachstum war nicht organisch und nicht nachhaltig. Es führte nach Angaben der Weltbank zu einer der schwersten Krisen der weltweiten Wirtschaftsgeschichte, die seit 2019 das Land lähmt und mehr als 80 % der Bevölkerung unter die Armutsgrenze rutschen ließ. Auch die Währung ist im freien Fall: Die Währung hat mittlerweile mehr als 97 % ihres Wertes verloren, und das in nur gut drei Jahren. Gleichzeitig brach das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2019 und 2021 um 58 % ein.
Die Gründe für diesen beispiellosen Verfall sind vielschichtig. Doch gerade bei vielen linken Intellektuellen gilt es quasi als ausgemacht, dass der Libanon das Musterbeispiel für eine gescheiterte liberale Wirtschaftspolitik sei, die auf minimalen Staatseingriff und niedrige Steuern setzt. Doch ein differenzierter Blick zeigt schnell: Im Libanon ist nicht die liberale Marktwirtschaft gescheitert, sondern der Staat. Die Forderungen von Liberalen zur Begrenzung von Staatsschulden, einer unabhängigen Zentralbank und fairen Wettbewerb wurden im Libanon über Jahrzehnte ignoriert. Die Folgen der Missachtung sind heute überall sichtbar.
Warum diese Forderungen im Libanon korrumpiert wurden und warum niedrige Steuern alleine noch keine liberale Marktwirtschaft machen
Das Festhalten an der Begrenzung von Staatsschulden ist eine der zentralen Forderungen liberaler Politik. Die libanesische Regierung verschuldete sich seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 exorbitant. So stieg die Staatsverschuldung 2020 auf über 170 % Prozent des Bruttoinlandsproduktes an. Insbesondere die Bewirtschaftung dieser hohen Schulden führte zu einer zusätzlichen Belastung des Staatshaushaltes. Zwischen 1994 und 2010 wurden 97 % der Steuereinnahmen direkt wieder zur Tilgung von Schulden ausgegeben, sie machten 38 % der gesamten staatlichen Ausgaben aus. Ein Teufelskreis hatte begonnen: Immer mehr Schulden führten zu immer höheren Tilgungsausgaben, die zu immer weiteren Kreditaufnahmen führten, um die Differenz zu den laufenden notwendigen Ausgaben des Staates zu decken. Sich dieser Dynamik entgegenzusetzen ist dann ohne ausländische Hilfe oder gravierende Einschnitte im Sinne einer rigiden Sparpolitik kaum mehr möglich. Auch wenn Deutschland und der Libanon sehr unterschiedliche Anfangsbedingungen haben, so ist der Teufelskreis doch der gleiche. Deshalb sind Instrumente wie die Schuldenbremse notwendig, um die Staatsverschuldung effektiv zu begrenzen.
Die Forderung nach einer unabhängigen Zentralbank, die nach wissenschaftlichen Kriterien geführt wird, ist ebenso unwiderleglich richtig: Nur wenn sich die Geldpolitik, und dies betrifft sowohl die Schaffung und Vernichtung von Zentralbank- und Buchgeld im Euroraum, als auch die Anpassung der Refinanzierungssätze durch die EZB an den Gegebenheiten des Geldmarktes orientiert, ist eine effiziente Steuerung möglich. Im Libanon wurde diese Voraussetzung seit vielen Jahren ignoriert: Zentralbankchef Riad Salameh, der dieses Amt seit mittlerweile rund 30 Jahren innehat, installierte stattdessen eine Art staatlich organisiertes Ponzi-System, das durch besonders hohe Zinsen auch in konjunkturell schwachen Zeiten wie der Weltwirtschaftskrise 2007/2008 hohe Geldflüsse aus dem Ausland anzog. Durch eine weitere Einlagezinsdifferenz zwischen der Lira und dem Dollar, wobei Erstere höhere Einlagezinsen erzielte, wurden insbesondere Dollars von im Ausland (etwa im Golf) arbeitenden Libanesen angezogen. Dadurch wurde einerseits die Lira künstlich auf Höhe des gekoppelten Wechselkurses gehalten (durch die Ansammlung von Devisen in der Zentralbank) und andererseits die hohen Staatsausgaben per Kredit durch die Banken finanziert. Gleichzeitig gewährte die Zentralbank den Geschäftsbanken nochmals höhere Einlagezinsen als die Banken ihrerseits den Kunden auszahlten. Im Bankensektor wurden dadurch langfristig auf Kosten der Anleger hohe Gewinne erzielt. Mit dem Kollaps dieses Systems im Jahr 2019 endete der Erfolg der Zentralbank-Strategie: Der Staat musste sich vorübergehend mit Anleihen über Wasser halten, die schließlich jedoch ebenso wenig zurückgezahlt werden konnten. Die Banken sperrten in der Folge die Konten der Anleger, da eine Rückzahlung nicht ohne einen kompletten Zusammenbruch des Bankensystems möglich war. Die von den Banken gesperrten Einlagen beliefen sich Ende 2022 auf rund 100 Milliarden US-Dollar, Mitglieder der politischen Elite dagegen transferierten auch während der Krise etwa 6 Milliarden US-Dollar ins Ausland.
Bemerkenswert ist: Es war Rafik Hariri, der damalige Premierminister, der Salameh 1993 ins Amt des Zentralbankchefs verhalf. Während Salamehs Maßnahmen zwar zu Hariris äußerst teurem Regierungsstil passten, so führten sie das Land jedoch mittelfristig in eine tiefe Krise. Fakt ist: Stehen sich Zentralbank und Politik zu nahe, oder kann eine Zentralbank völlig ohne korrekt arbeitende Kontrollmechanismen agieren, öffnet dies Akteuren wie Salameh Tür und Tor. Die Zentralbanken müssen auch in Europa unabhängig von der Politik bleiben und nach wissenschaftlichen Vorgaben agieren.
Eine weitere häufig genannte Voraussetzung für eine funktionierende Marktwirtschaft ist der Wettbewerb: Die Marktwirtschaft fußt auf der Annahme, dass eine möglichst vollkommende Konkurrenz - also ein Markt mit freiem Zutritt und freier Preispolitik - zu den besten Gleichgewichtsergebnissen führt. Der Staat hat die Aufgabe, die Bedingungen für Wettbewerb fair zu gestalten und ansonsten möglichst wenig in das Marktgefüge einzugreifen. Insbesondere die Bildung von Kartellen oder gar Monopolen sollte nach Möglichkeit verhindert oder diese aufgebrochen werden. Während natürliche Mono- oder Oligopole, also solche, die sich aufgrund besonders hoher Markteinstiegskosten bilden, auch in vielen funktionierenden Marktwirtschaften bekannt sind, so formten sich im Libanon zahlreiche Oligopole aufgrund von Korruption oder unfairen Wettbewerbsbedingungen oder gar staatliche Monopole. Ein Beispiel für Letzteres ist die marode „Electricité du Liban“, die mittlerweile nicht mehr als vier Stunden Strom pro Tag bereitstellen kann und in manchen Monaten der Krise gar keine staatliche Energieversorgung liefern konnte. Auch der Zementsektor war über viele Jahre ein Oligopol, was Zement mehr als dreimal so teuer machte als auf dem internationalen Markt. Sichtbar wird: Monopole und Oligopole, ob staatlich oder privat, führen zu suboptimalen Marktergebnissen und damit erhöhten Kosten. Daher ist es notwendig, diese durch geeignete Maßnahmen wie Mittelstandsförderung (im Sinne einer Förderung einer Vielzahl konkurrierender mittlerer Unternehmen statt eines großen Monopolisten), Verbot von Kartellen und die Bekämpfung von Korruption in den damit beauftragen Behörden zu zerschlagen. Diese Forderung ist auch für Deutschland keine leere Worthülse, denn gerade in Krisenzeiten erweisen sich einseitige Abhängigkeiten oftmals als fatal, egal ob wirtschaftlich oder politisch bedingt, wie die Energiekrise seit Beginn des russischen Angriffskrieges zeigt.
Ist das, was von der libanesischen Wirtschaft noch übrig ist, der klägliche Überrest einer gescheiterten Marktwirtschaft?
Gerade die niedrigen Steuern und eine in der Tat außergewöhnliche staatliche Untätigkeit verleiten schnell zur Annahme, dass im Libanon die Marktwirtschaft gescheitert ist. Im Jahr 2022 lag der Höchststeuersatz bei nur 25 %, in den Jahren vor der Krise gar noch niedriger. Kapitaleinkünfte werden mit 15 % pauschal besteuert. Ein liberales Paradies? Nein, denn diese Argumentation greift zu kurz und weist eine zu oberflächliche Interpretation einer staatlich geschützten, gepflegten und geförderten Marktwirtschaft auf. Denn die libanesische Politik hat zugelassen, dass sich aufgrund zu großer staatlicher Untätigkeit eine oligopolistische Vetternwirtschaft der politischen Eliten entwickelt hat, die nicht in erster Linie den Marktteilnehmern, sondern ihnen selbst nutzt. Darüber hinaus ist die Forderung nach niedrigen Steuern innerhalb einer Marktwirtschaft niemals isoliert, sondern immer mit der Forderung nach der Reduktion staatlicher Ausgaben verbunden. Dazu gehört freilich auch die Förderung privater Investitionen. Im Libanon wurde privates Engagement regelrecht bestraft, denn die Hochzinspolitik machte vor der Krise jeden, der sein Geld nicht einfach auf die Bank legte, zum Verlierer. Und mit horrenden Staatsausgaben finanzierten sich die Regierungen in Komplizenschaft mit Salameh über das von der Zentralbank orchestrierte Pyramidensystem. Das zeigt: Niedrige Steuern alleine machen noch keine intakte Marktwirtschaft aus, so schmerzhaft dies für die Kritiker des liberalen Modells gleichermaßen wie für die Populisten, die nur auf die nächste Wahl schielen, auch sein mag.
Die wichtigste Lehre für Deutschland aus der libanesischen Misere muss sein, dass die oben genannten Voraussetzungen für eine liberale Volkswirtschaft unabdingbar sind. Ihre Missachtung führt langfristig zu gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Einschnitten. Aber auch, dass die Verwirklichung einer einzelnen Forderung niemals ausreichen kann, sondern immer eine Würdigung der Gesamtsituation notwendig ist - einfache Antworten reichen auf die komplizierten Problemstellungen der heutigen Zeit nicht mehr aus. Dies sollten sich gerade jene Politiker zu Herzen nehmen, die, ob Krise oder Boom, immer die gleichen Forderungen stellen.
Kristof Kleemann ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für den Libanon und Syrien.