Marokko
Marokko vor den Parlamentswahlen: Viele Parteien, wenig Wähler
Am 8. September wählen die Marokkaner ein neues Parlament – und nebenbei auch noch neue Lokal- und Regionalversammlungen. Es ist erst der dritte nationale Urnengang nach dem Arabischen Frühling von 2011 und den darauffolgenden demokratischen Reformen.
Insgesamt bewerben sich 31 Parteien um Sitze im Repräsentantenhaus und eine Rolle in der zukünftigen Koalitionsregierung. Zwölf von ihnen sind heute schon im Parlament vertreten, in Zukunft werden es höchstwahrscheinlich noch mehr sein. Das marokkanische Wahlsystem ist mathematisch so angelegt, dass kleine Parteien im Parlament über-, und große Parteien unterrepräsentiert sind. Dies macht breite Koalitionen erforderlich und die Dominanz einzelner Parteien praktisch unmöglich.
Kein Urnengang mehr nach dem Freitagsgebet
Die erste große Frage im Vorfeld dieser Wahl lautet, ob die gemäßigten Islamisten der PJD (parti de la justice et du développement) nach ihren Erfolgen 2011 und 2016 auch ein drittes Mal siegreich aus der landesweiten Abstimmung hervorgehen. Sie stellen derzeit mit 125 von 395 Abgeordneten eine relative Mehrheit. Einige Änderungen des Wahlgesetzes sowie die Verlegung des Urnengangs auf einen Mittwoch dürften die Partei von Premierminister Saadeddine Othmani jedoch schwächen. Traditionell finden Wahlen in Marokko immer freitags statt. Gegner der PJD sahen darin jedoch einen Vorteil für die moderaten Islamisten, weil die Imame die strenggläubigen Anhänger ihrer Gemeinden direkt vom Freitagsgebet zu den Urnen schicken konnten. Deshalb haben sie die Verlegung auf einen Mittwoch durchgesetzt.
Prognosen bezüglich des Wahlausgangs sind schwierig, da Wahlumfragen in Marokko verboten sind. Beobachter erwarten jedoch ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der PJD und der sozialdemokratischen RNI (rassemblement national des indépendants) um den Unternehmer und amtierenden Landwirtschaftsminister Aziz Akhannouch. Würde Akhannoch gewinnen, könnte er versuchen, eine Koalition ohne die moderaten Islamisten zu bilden.
Die gemäßigten Islamisten der PJD sind keine Demokratiefeinde und weit entfernt von den radikalen und fundamentalistischen Positionen ihrer Schwesterparteien in anderen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Sie haben sich im Gegensatz zu ihren Mitbewerbern höchst professionell organisiert und dadurch sogar maßgeblich zur Stärkung der marokkanischen Demokratie beigetragen.
Eine neue Regierung ohne den politischen Islam der PJD?
Doch die weltanschaulichen Gegensätze zwischen der PJD und den meisten anderen Parteien haben die Regierung auf vielen Feldern handlungsunfähig gemacht und gleichzeitig das Parlament gegenüber dem Königshaus geschwächt. So blockiert die PJD beispielsweise eine Reform des veralteten Strafrechts. Dort finden sich weiter frauendiskriminierende und tief in die Privatsphäre der Menschen eingreifende Tatbestände, die klar im Widerspruch zur modernen Verfassung Marokkos von 2011 stehen. Gegen den Wiederstand der PJD war es den liberalen Regierungsparteien Mouvement Populaire (MP) und Union Constitutionnelle (UC) bisher nicht möglich, daran etwas zu ändern. Die anstehenden Wahlen könnten dazu eine Chance bieten.
Wo Parlament und Regierung nicht handeln, füllt der Königspalast automatisch das politische Machtvakuum. Für die Bürger verstärkt sich damit der Eindruck, dass ihre Stimme in der Politik nichts bewirkt. Dadurch ergibt sich ein Teufelskreis aus sinkender Wahlbeteiligung und schwindender Bedeutung politischer Parteien, der letztlich die Vision der Verfassung von 2011 untergräbt: die einer demokratisch verfassten, parlamentarischen Monarchie. Die Marokkaner haben am 8. September eine Gelegenheit, sich gegen diesen Trend zu stemmen.
Wählen darf nur, wer den erforderlichen Aufwand betreibt
Die zweite Frage lautet daher: Wie viele Menschen werden wählen? Der größte Gegner der kandidierenden Parteien sind nicht ihre Mitbewerber, sondern die traditionell niedrige Wahlbeteiligung. Diese lag 2016 laut offiziellen Angaben bei rund 43%. Doch diese Zahl bezieht sich nur auf die registrierten Wähler, nicht aber auf alle Wahlberechtigten. Nur knapp 6 Millionen Marokkaner haben damals ihre Stimme abgegeben, was höchstens einem Viertel der erwachsenen Bevölkerung entspricht. Diese Zahlen haben mit bürokratischen Hürden und Politikverdrossenheit zu tun.
Marokkaner müssen sich bis zu einem Stichtag aktiv im Wählerverzeichnis registrieren. Ausgerechnet in den letzten Wochen vor der Wahl, wenn die Parteien ihre Programme präsentieren und das allgemeine Interesse an Politik zunimmt, ist eine Registrierung aber nicht mehr möglich. Wer nicht registriert ist, hat Pech gehabt. Gleiches gilt für Menschen, die am Wahltag schon etwas Anderes vorhaben oder auf Reisen sind, denn eine Abstimmung per Brief oder Stellvertreter ist nicht vorgesehen.
Politische Parteien genießen außerdem in Marokko keinen guten Ruf. In einer im Januar veröffentlichten Umfragegaben 60 Prozent der Befragten an, kein Vertrauen in politische Organisationen zu haben. Sie werden oft als elitär wahrgenommen und kommen im Alltag der meisten Menschen kaum vor. Dies gilt vor allem für junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren, von denen sich nur ein Prozent in Parteien engagiert.
Alle für bessere Bildung und Gesundheit
Dabei wären politische Ideen stärker gefragt denn je. Marokko ist durch die Covid-19 Pandemie hart getroffen, unter anderem durch das abrupte Ausbleiben der Einnahmen aus dem Tourismus. Mehr als vier Millionen Haushalte leben von Einkommen aus dem informellen Sektor. Die betroffenen Menschen haben keine Arbeitslosen-, Sozial-, oder Rentenversicherungen und sind den Folgen der Wirtschaftskrise schutzlos ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Qualität des marokkanischen Bildungs- und Gesundheitswesens weit unter den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes und dem mittlerweile errungenen Lebensstandard vieler Marokkaner liegt.
Alle kandidierenden Parteien, von den Konservativen bis zu den Sozialisten, versprechen diese Probleme durch Investitionen und Sozialleistungen anzugehen. Wie sie die dazu notwenigen Einnahmen zu generieren gedenken, verraten sie nicht. Der Wahlkampf, der in Form einer einzigen, hochintensiven Woche organisiert ist, dreht sich vor allem um die Kandidaten, die in den jeweiligen Wahlkreisen direkt gewählt werden. Dabei sticht die persönliche Verbundenheit zu einer Person im Zweifel die Parteizugehörigkeit. Köpfe zählen mehr als Programme.
Es ist den Marokkanern zu wünschen, dass sie am 8. September zahlreich von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen und ein neues Parlament mit einem möglichst starken demokratischen Mandat ausstatten. Spannend werden dann die folgenden Wochen, wenn die zahlreichen im Parlament vertretenen Parteien ihre Koalitionsoptionen sondieren müssen. Die liberalen Parteien haben in jedem Fall gute Aussichten, wieder Teil einer Regierung zu sein. Sollte die PJD dieses Mal nicht als Sieger aus der Abstimmung hervorgehen, könnte es die handlungsfähigste Regierung seit den Reformen des Arabischen Frühlings werden.
Sebastian Vagt leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Marokko.