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Rechtsstaat
Nationales Recht über EU-Recht? Der Rechtsstreit zwischen Polen und der EU zieht sich hin

Das polnische Verfassungstribunal in Warschau.
Das polnische Verfassungstribunal in Warschau. Die Entscheidung wird seit zwei Monaten mit Spannung erwartet. © picture alliance / dpa | Alexey Vitvitsky

Das polnische Verfassungstribunal hat die für heute angesetzte Anhörung über die Frage, ob die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs Polens trotz einer einstweiligen Anordnung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) weiter tätig bleiben kann, kurzfristig verschoben. Die Anhörung war ursprünglich bereits für den April angesetzt, wurde aber aufgrund der Initiative des Büros des polnischen Ombudsmannes mehrmals vertagt.

Polnischen Medien zufolge waren die Einwände des polnischen Ombudsmannes Adam Bodnar gegen die Besetzung des Gerichtspanels, das nun über die Verfassungsmäßigkeit der einstweiligen Anordnungen entscheidet, auch der Grund, warum gestern die Anhörung kurzfristig aufgehoben wurde. Im aktuellen Rechtsstreit vertritt die polnische Regierung den Standpunkt, dass die einstweiligen Anordnungen des EuGH gegen die polnische Verfassung verstoßen. Es ist nicht das erste Mal, dass es zu einem Konflikt zwischen der PiS-Regierung und der EU über Änderungen im polnischen Justizbereich kommt. Nach ihrem Antritt im Jahre 2015 hatte die PiS das polnische Justizwesen wesentlich umgebaut und die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte unterminiert. Aufgrund ihrer Justizreform wurden die Regeln für die Richterberufung neu festgelegt. Damit hat die PiS die Möglichkeit bekommen, ihr nahestehende Personen für den Landesrichterrat (KRS), der Kandidaten für Richterposten vergibt, zu nominieren und damit die Auswahl der Richter zu beeinflussen.

Streit um die Disziplinarkammer

Im Zuge der Justizreform wurde auch eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht geschaffen, die Richter oder Staatsanwälte bestrafen oder entlassen kann. Für Aufregung sorgte im Februar 2020 das Gesetz zur Disziplinierung von Richtern, das von den Regierungsgegnern als „Maulkorb-Gesetz“ bezeichnet wird. Gemäß dem Gesetz drohen Richtern, die gegenüber den bisherigen Justizreformen kritisch sind, Geldstrafen, Herabstufung oder sogar Entlassung. Außerdem hindert das Gesetz polnische Richter daran, sich bei bestimmten Rechtsfragen an den EuGH zu wenden.

Der EU-Kommission zufolge ist die polnische Disziplinarkammer rechtswidrig. Ein abschließendes Urteil des EuGHsteht noch aus. Am Anfang Mai bezeichnete der EuGH-Generalanwalt Evgeni Tanchev in einem neuen Gutachten es jedoch als eindeutig, dass die Einrichtung der Disziplinarkammer gegen EU-Recht und die Unabhängigkeit der Justiz verstoße. Im Rahmen einer einstweiligen Anordnung setzte der EuGH die Tätigkeit der Disziplinarkammer bereits im April 2020 aus. Diese Anordnung wird jedoch seitens der polnischen Regierung mit der Begründung ignoriert, dass der EuGH nicht das Recht habe, über die EU-Rechtskonformität der Maßnahmen der Disziplinarkammer zu entscheiden. Trotz der Anordnung sind sogar vor kurzem zwei gerichtliche Disziplinaranhörungen im Verfahrenskalender des Obersten Gerichtshofs erschienen, über denen in Mitte-September entschieden werden sollte. Ende März reichte daher die EU-Kommission beim EuGH eine neue Klage und den Antrag auf weitere einstweilige Anordnung im Streit um die polnischen Justizreformen ein.

Die Disziplinarkammer hat kurz nach der Ankündigung aus Europa eine Rechtsfrage über die Vereinbarkeit der Anordnung des EuGH mit der polnischen Verfassung an das Verfassungstribunal gestellt. Die Anhörung wird mit großer Spannung erwartet. Manchen Beobachtern zufolge könnte der Ausgang der Causa andeuten, wie Polen in der Zukunft mit den Entscheidungen von EuGH in Sachen der Justizreform umzugehen gedenkt. 

(Un-)abhängiges Urteil?

Das Verfassungstribunal, das nun über die Frage der Vereinbarkeit der einstweiligen EuGH-Anordnungen mit der polnischen Verfassung entscheidet, wird von Regierungskritikern als illegitim angesehen. Ihm wird vorgeworfen, unter dem Einfluss der regierenden PiS zu stehen. Aufgrund des Justizumbaus wurde in einem juristisch und politisch umstrittenen Verfahren die Mehrheit der Richter von der Regierung ernannt. Die EU-Kommission sieht in der Übernahme des Gerichtswesens durch die PiS-Partei einen Verstoß gegen Rechtsstaat und Gewaltenteilung. 

Regierungskritiker zeigen sich nun besonders darüber besorgt, dass zu den Mitgliedern des Panels, das über die Verfassungsmäßigkeit der einstweiligen Anordnungen entscheidet, auch die ehemalige PiS-Abgeordneten Krystyna Pawłowicz (Vorsitzende des Panels) und Stanisław Piotrowicz gehören, die als Abgeordnete im polnischen Sejm die Gesetzgebung zur Einführung verfassungswidriger Änderungen (einschließlich der Einrichtung der Disziplinarkammer) aktiv mitgestalteten. 

Außer Pawłowicz und Piotrowicz gehört zum fünfköpfigen Gerichtspanel auch Justyn Piskorski, eines der sogenannten „Richter-Doubles“, die nach der Regierungsübernahme durch die PiS für eine Stelle am Verfassungstribunal gewählt wurden, die bereits zuvor besetzt gewesen waren. Gerade dies sieht aber der Ombudsmann Adam Bodnar kritisch. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Anfang Mai geurteilt hatte, dass Entscheidungen der „Richter-Doubles“ am polnischen Verfassungstribunal nicht rechtmäßig seien, sollte Bodnar einen Antrag zum  Verfahrensausschluss von Piskorski stellen. Anschließend wurde auch die Verhandlung vom 13. Mai auf den 15. Juni verschoben. 

Polnischen Medien zufolge waren die Einwände von Bodnar gegen die Besetzung des Panels auch der Grund, warum gestern die Anhörung kurzfristig aufgehoben wurde. In der vergangenen Woche hat der Ombudsmann nämlich beantragt, die Vorsitzende Pawłowicz aufgrund ihrer EU-feindlichen Äußerungen aus dem Verfahren auszuschließen. Nach der Anordnung des EuGH vom Mai, den Braunkohleabbau im polnischen Bergwerk Turów vorläufig zu stoppen, hat Pawłowicz öffentlich über „Aggression“ gegen Polen und „unverschämte Gangster der EU-Justiz“ gesprochen. Laut Bodnar würden dadurch die Prinzipien der Unparteilichkeit und Objektivität bei Pawłowicz nicht garantiert.

Bodnar gilt als einer der schärfsten und bekanntesten Regierungskritiker, der auch im Ausland hohes Renommee genießt. Daher stellt er für die PiS-Führung eher einen Handlanger der Opposition dar. In der Tat endete seine Amtszeit schon im September 2020, aufgrund des polnischen Rechts sollte er aber bis zur Wahl der neuen Ombudsperson im Amt bleiben. Das politisierte Verfassungstribunal hat allerdings im April dieses Jahres entschieden, dass die gesetzlichen Bestimmungen, die es Bodnar erlaubten, sein Amt während der Übergangszeit auszuüben, verfassungswidrig seien und Bodnar in drei Monaten von seinem Amt zurücktreten müsse. Ein Nachfolger ist immer noch nicht gefunden, gerade heute stimmen jedoch die polnischen Abgeordneten erneut über die Besetzung des Amts ab.   

Wie geht es nun weiter?

Die PiS ist seit langem der Meinung, dass nationales Recht Vorrang vor EU-Recht habe. Nachdem der EuGH Anfang März im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens entschied, dass die polnischen Regeln für Richterberufung Gemeinschaftsrecht verletzten, hat der polnische Ministzerpräsident Morawiecki dem Verfassungstribunal sogar die Frage der Normenhierarchie von Unionsrecht und polnischen Verfassungsrecht vorgelegt. Am Anfang Juni hat der EU-Justizkommissar Didier Reynders in einem Brief an den polnischen Europaminister Konrad Szymański appelliert, den Antrag zurückzuziehen, was Morawiecki jedoch resolut ablehnte. In den EU-Verträgen steht jedoch eindeutig, dass Entscheidungen des EuGH bindend sind.

Sollte das polnische Verfassungstribunal daher beschließen, dass einstweilige Anordnungen des EuGH nicht im Einklang mit der polnischen Verfassung sind, würde das eine wesentliche Untergrabung der Funktionsfähigkeit des EU-Rechtssystems bedeuten. Einige Kommentatoren sprechen in diesem Zusammenhang über einen weiteren Schritt in Richtung eines de-jure PolExit. Klar ist, dass ein Urteil schwerwiegende Folgen für Polen haben kann und den Konflikt zwischen Polen und der EU weiter verschärfen würde. Mit dem EU-Beitritt verpflichtet sich jeder Mitgliedstaat, an die in der Union geltenden gesetzlichen Bestimmungen – einschließlich der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit – gebunden zu sein. Und das gilt auch für Polen.

Natálie Maráková ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.