Estland
Neue liberale Regierung in Estland
Zusammensetzung der neuen Regierung
Estland hat in der vorherigen Legislaturperiode eine recht turbulente Zeit hinter sich, in der drei Regierungen mit unterschiedlichen Parteizusammensetzungen an der Macht waren. Die letzte Regierung trat am 18. Juli 2022 in der Konstellation Reformpartei-SDE-Isamaa (Konservative Partei) an. Die neue Regierungskoalition Reformpartei-Eesti200-SDE ist jedoch bestrebt, eine gewisse Kontinuität zu wahren: 7 Minister aus der vorangegangenen Legislaturperiode bleiben im Amt, und Kaja Kallas bleibt Ministerpräsidentin.
Es gibt jedoch einige Änderungen. Die erste betrifft die proportionale Verteilung der Ministerposten. In der Vergangenheit hatten die Parteien die Posten traditionell gleichmäßig aufgeteilt, unabhängig davon, wie viele Sitze jede Partei bei den Wahlen gewonnen hatte. Diesmal ist die Anzahl der gewonnenen Sitze maßgebend. So hat die Reformpartei (37 Sitze) 7 Minister und die Ministerpräsidentin und Eesti200 (14 Sitze) und SDE (9 Sitze) haben jeweils 3 Minister. Eine weitere Änderung ist die Umstrukturierung der Ministerien, so dass es bei dieser Wahl statt 14 nur noch 13 Ministerien geben wird.
Ausgeglichener Haushalt
Die Umstrukturierung der Ministerien zielt nicht nur darauf ab, ihre Effizienz zu steigern, sondern auch die Staatsausgaben zu senken. Die Staatsverschuldung hat sich in wenigen Jahren verdoppelt, die staatlichen Reserven sind erschöpft und die neue Regierung will in einem deutlich teureren Kreditumfeld keine Kredite aufnehmen. Deshalb ist eines der Ziele der Koalition ein ausgeglichener Staatshaushalt.
Allein im letzten Jahr gab es ein Defizit von 1,2 Milliarden Euro. Die Entscheidung für das Defizit wurde mit erhöhten Verteidigungsausgaben, der Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge, den anhaltenden Kosten der Covid-Krise, der Inflation und steigenden Energiepreisen begründet.
Die neue Reform-Eesti 200-SDE Koalition verpflichtete sich nun jedoch, die Mehrwertsteuer und die Einkommenssteuer um zwei Prozent (von 20 zu 22) zu erhöhen. Darüber hinaus hat die Koalition zugesagt, ab 2024 eine Kfz-Steuer einzuführen, die dem Staatshaushalt jährlich 120 Millionen Euro einbringen soll. Diese Steuer soll auf der Grundlage von zwei Aspekten berechnet werden. Der erste ist die CO2-Produktion. Das bedeutet, dass Autos, die mehr CO2 ausstoßen, mehr zahlen müssen. Der zweite Aspekt bei der Berechnung ist, ob es sich um ein Elektroauto handelt. Diese sollen steuertechnisch deutlich günstiger werden, was als Anreiz zum Kauf von Elektrofahrzeugen dienen soll. Es ist jedoch noch nicht klar, wie diese Berechnung genau funktionieren wird.
Koalitionsvertrag im Zeichen des Krieges
Eine solche Bevorzugung des Elektroautos ist Teil der Bemühungen der neuen Regierung um eine grüne Transformation. Eines der Ziele der neuen Regierung ist es, den öffentlichen, privaten und tertiären Sektor dazu zu bringen, für eine grüne Transformation zusammenzuarbeiten und ein Klimagesetz zu verabschieden. So will die Koalition beispielsweise möglichst viele Gebäude renovieren, um die Energieeffizienz zu steigern. Die Einführung einer Methodik zur CO2-Bewertung bei der Planung und die Einführung einer Verpflichtung zur Überwachung der Energieklassen von öffentlichen und gewerblichen Gebäuden sollen dabei helfen.
Das wichtigste Thema der Agenda ist jedoch die Sicherheit. Wie Kaja Kallas sagte, wurde der Koalitionsvertrag unter Berücksichtigung des Krieges in Europa ausgehandelt und die estnischen Verteidigungsausgaben müssen erhöht werden. Die Verteidigungsausgaben sollten volle 3 % des BIP betragen: „Ohne eine Stärkung der Verteidigung können wir nicht ernsthaft über die Zukunft unserer Wirtschaft oder das Estland sprechen, das wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen werden,“ sagte Kallas im Parlament. Zweck der Erhöhung der Verteidigungsausgaben solle nicht sein, den Feind zu vernichten, sondern den Willen des Feindes zu mindern, in Estland einzumarschieren.
Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit der Sicherheit Estlands ist die vollständige Umstellung auf ein rein estnischsprachiges Bildungssystem. Als Überbleibsel aus der Sowjetzeit sind etwa 15 % der Schulen in Estland nach wie vor russischsprachig. In diesen Schulen wird bis zur dritten Klasse viermal pro Woche Estnisch unterrichtet. In der vierten bis siebten Klasse erhöht sich die Zahl der Wochenstunden auf fünf. Das soll sich ändern. Im Dezember letzten Jahres beschloss die Regierung von Kaja Kallas, alle Schulen auf Estnisch umzustellen. Die neue Regierung will diese Umstellung zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Laut Kallas ist „die Kommunikation in einer Sprache, das Leben in einem Informationsraum eine der besten Möglichkeiten, unsere Fähigkeit und unseren Willen zur Selbstverteidigung sicherzustellen. Eine gespaltene Gesellschaft ist eine verlockende Beute für einen Angreifer. Einheit ist eine Abschreckung, die den Angreifer zögern, sich fürchten und von einem Angriff absehen lässt.“
Sicherheit und Demokratie
Die neue Regierung übernimmt das Land in einer schwierigen Situation und hat viele unpopuläre Entscheidungen und Maßnahmen vor sich, die bereits jetzt von der Opposition kritisiert werden und bei den Bürgern ambivalente Emotionen wecken. Die neue Regierung scheint jedoch entschlossen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, die das Land stärken und seine Demokratie und seine Sicherheit garantieren.
Ester Povýšilová ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.