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Internationale Politik
Ungarische Verschiebungspolitik

Orbán nutzt strategisch die NATO, um seine Ziele innerhalb der EU zu erreichen
Der russische Präsident Wladimir Putin (L) schüttelt dem ungarischen Premierminister Viktor Orban die Hand

Der russische Präsident Wladimir Putin schüttelt dem ungarischen Premierminister Viktor Orban die Hand

© picture alliance/EPA-EFE | ALEXEI NIKOLSKY / SPUTNIK / KRE

Am Montag hat das Ungarische Parlament den NATO-Beitritt ratifiziert. Die Abstimmung geschah über 8 Monate nach dem Beschluss Finnlands, der NATO beitreten zu wollen. Ungarn gehörte – gemeinsam mit der Türkei – zu den letzten Mohikanern, die bis vor kurzem noch keine Entscheidung getroffen haben. Schweden muss jedoch noch abwarten.

Save the date: aber welches?

Schon im November letzten Jahres hatte der ungarische Regierungschef Viktor Orbán angekündigt, dass Ungarn dem NATO-Beitritt der beiden Länder nicht im Wege stehen werde und ihn sogar unterstütze. Trotzdem hat Ungarn in den kommenden Monaten die Parlamentsabstimmung mehrmals verschoben. Dabei hat die ungarische Regierung die ganze Zeit ihre prinzipiell positive Position gegenüber Finnland und Schweden immer wieder klar gezeigt.

Anfang März war eine Parlamentsdelegation aus Ungarn unter Leitung von dem stellvertretenden Sprecher der Ungarischen Parlament Csaba Hende (Fidesz) nach Finnland und Schweden gereist, um über die NATO-Erweiterung zu diskutieren. Die Ergebnisse der Gespräche im finnischen Parlament hatten beide Seiten als positiv bezeichnet. Sprecher des finnischen Parlaments Matti Vanhanen hat die ungarische Einstellung als klar prowestlich beschrieben.

Trotz dieses allseitigen Enthusiasmus hatte einige Tage danach der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács eine weitere Verschiebung der Abstimmung verkündet – diesmal wurde das Datum auf den 27. März verlegt, und die Abstimmung sollte sich nur dem finnischen Fall widmen. Niemand in der Regierung hat sich die Mühe gegeben, eine Erklärung dazu abzugeben. Es sei halt das Parlament gewesen, das Einwände gehabt habe, so der Außenminister Szíjjártó.

Geld kommt immer an erster Stelle

Da es keine offiziellen Gründe gab, warum Ungarn die Abstimmung immer wieder verschoben hat, muss man sie zwischen den Zeilen suchen.

Die meisterwähnte Einschätzung über die Gründe bezieht sich auf die EU-Subventionen. Die Union hat wegen der kritischen Situation der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn fast sechs Milliarden Euro aus dem Aufbaufonds eingefroren. Ungarn kann das Geld erst dann bekommen, wenn es etliche Reformen umsetzt (die so genannten „27 Super-Meilensteine“) sowie die Unabhängigkeit der Justiz sicherstellt und die Medienfreiheit stärkt. Diese Initiative wurde auch von Finnland und Schweden unterstützt: Beide Länder hatten sich dadurch der Kritik an der Situation der Justiz und der grassierenden Korruption in Ungarn angeschlossen.

Kurz, Orbán nutzt seine Position als einer der Entscheidungsträger aus. Er befindet sich hier in einer Machtposition und verfügt über eine entscheidende Stimme – ohne ihn können Finnland und Schweden ihre NATO-Mitgliedschaft vergessen. Diesen Umstand nutzt er nun aus und erpresst die EU, indem er Schweden und Finnland als Geisel nimmt, um seine Ziele innerhalb der EU zu erreichen. Laut Dániel Hegedűs von German Marshall Fund of the United States will Orbán mit dieser Strategie beide Länder dazu bringen, eine mögliche Freigabe der ungarischen Mittel im April zu unterstützen oder zumindest keine Kritik gegen Ungarn mehr in dieser Sache zu äußern. Überdies hält Schweden bis Mitte Juni die EU-Ratspräsidentschaft. Entsprechend will die ungarische Regierung Schweden während seiner Ratspräsidentschaft möglicherweise davon abhalten, weitere Maßnahmen gegen Ungarn zu ergreifen.

Orbán und Putin: Ziemlich beste Freunde

Einen anderen Grund für die ständige Verschiebung der Abstimmung könnte man in Orbáns prorussischer Einstellung finden. Orbán will sich seine guten Beziehungen mit Putin nicht verderben. Durch die Verzögerung will er Putin zeigen, dass Ungarn nicht auf derselben Seite steht wie die westliche Welt, als deren Teil sich Ungarn immer weniger zu identifizieren scheint. Die Botschaft lautet: Putin hat in Ungarn einen Verbündeten.

Orbán hat schon mehrmals deutlich gemacht, dass er Sympathien gegenüber Russland hat. Einige aussagekräftige Beispiele dafür sind Ungarns Blockierung der EU-Sanktionen gegen Russland und seine Anschuldigungen gegenüber der EU, dass die Sanktionen gegen Russland zur hohen Inflation in Ungarn geführt hätten (die Regierungspartei Fidesz bezeichnet die Inflation als "Sanktionsinflation"). Orbáns Rhetorik ist von einem anti-westlichen Kurs geprägt – statt Russland macht er die EU für den Krieg verantwortlich.

Heute ist der Westen auf der Seite des Krieges und Ungarn auf der Seite des Friedens, wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, anstatt den Krieg fortzusetzen und zu verschärfen.

Viktor Orbán, 26.9.2022

Zuletzt hatte sich die ungarische Regierung geweigert, ein gemeinsames EU-Statement zu unterschreiben, das die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs über die Erlassung eines Haftbefehls gegen Putin unterstützte.

„Hungary matters“

Zudem kann man die ungarische Hinhaltesstrategie als ein Zeichen deuten, dass die Regierung die Bedeutung Ungarns in internationalen Organisationen stärken will. Kurz: Dass es in der EU wie auch in der NATO eine entscheidende Rolle spielt. „Hungary matters“, so die Botschaft.

Darüber hinaus hat Ungarn die Gelegenheit genutzt, sein Missfallen an der Kritik gegenüber der ungarischen Demokratie aus den EU-Reihen ins Feld zu führen. Da sich Finnland und Schweden der Kritik angeschlossen hatten, wollte Ungarn ihnen nun eine Lektion erteilen. Der ungarische Außenminister Péter Szijjártó bezeichnete die finnischen und schwedischen Äußerungen gegenüber Ungarn als "unbegründete Lüge". Der ungarische Abgeordnete Schaller-Baross (Fidesz) betonte die Souveränität Ungarns, die respektiert werden müsse und Regierungschef Viktor Orbán  hat beide Staaten der "schamlosen Lügenverbreitung über Ungarn" bezichtigt.

Die ungarischen Politiker wollen also das Bild Ungarns innerhalb der internationalen Organisationen stärken, damit es als ein wichtiges und unabhängiges Land wahrgenommen wird. Die Frage ist, ob ihre Schritte tatsächlich zu dem erwünschten Ergebnis führen werden. Péter Krekó vom politischen Thinktank Political Capital glaubt, dass diese Politik eher eine negative Auswirkung haben wird, und dass Ungarn dadurch am Ende noch mehr isoliert sein wird. Auch der bereits oben erwähnte Analyst Dániel Hegedűs erwartet eher schlechtere Beziehungen innerhalb der NATO und der EU mit Ungarn, da das Vertrauen der Mitgliedstaaten zu Ungarn geringer geworden sei.

Umgehen von Troublemaker

Ungarn hat nun endlich doch über den finnischen NATO-Eintritt abgestimmt. Der ganze Vorgang hat dennoch die Reputation Ungarns und seiner Regierung als Troublemaker bestätigt. Die hat sich das Land stetig erworben. Im November 2020 hatte Ungarn zusammen mit Polen etwa die Abstimmung über das  EU-Budget und Corona-Hilfspaket blockiert, und zwar zur Verhinderung der Einführung des Rechtsstaatsmechanismus, der die Auszahlung von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien knüpft. Im Dezember 2022 hatte Orbán ein Veto gegen die EU-Hilfe für die Ukraine eingelegt, weil er keine EU-Gelder, die für Ungarn gedacht waren, verlieren wollte. Zurzeit blockiert Ungarn ab und zu die gemeinsamen EU-Sanktionen gegen Russland.

Die Frage ist, wie sollen die EU oder NATO damit umgehen? Die NATO hat sich schon einmal für eine Strategie des Umgehens entschieden, wie man es im Falle des Ukraine-bezogenen NATO-Meetings auf der Ministerebene beobachten konnte. Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat verkündet, dass er bereit ist, ein solches Meeting zusammenzurufen, und zwar ohne Zustimmung von Ungarn, das sich gegen die Integration der Ukraine in NATO stellt.

Dagegen ist in diesem Falle wenig einzuwenden. Denn wenn man unter Inkaufnahme des politischen Kurses Ungarns, dessen Regierung selbst Demokratieprinzipien verletzt handeln würde, würde man den imperialistischen Ambitionen des Kreml in die Hände spielen.

Daniela Matoušová ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.