Polen
Wahlkampf in Polen: Der ersehnte Wendepunkt steht bevor
Am kommenden Sonntag finden in Polen Parlamentswahlen statt. Kaum ein anderer Urnengang in Mitteleuropa dürfte in diesem Jahr ähnlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie dieser. Polen ist mit seinen knapp vierzig Millionen Einwohnern schon lange ein gewichtiger Player innerhalb der Europäischen Union. Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 hat es Polen dank einer klaren Positionierung zugunsten einer uneingeschränkten Unterstützung der Opfers des russischen Angriffs noch mehr an politischem Gewicht gewonnen. Polens Wirtschaft entwickelt sich derzeit dynamisch. Das Land verwendet bemerkenswerte vier Prozent seines Bruttoinlandsprodukts auf seinen Verteidigungshaushalt. Es ist damit der größter Beitragszahler innerhalb der NATO. Das Geld fließt vor allem in den Aufbau der Armee; das Land will eine der stärksten und bestausgestatteten Streitkräfte in der EU aufbauen. Warschau hat sich gleich nach Beginn des russischen Angriffs als Kiews wichtigster und verlässlichster Partner einen Namen gemacht. Mit Beginn des laufenden Wahlkampfes begann die historisch eher ungewöhnliche, lager-übergreifende politische Einigkeit allerdings zu bröckeln.
Die polnische Parteilandschaft ist ausgenommen volatil. Viele Parteien haben eine äußerst geringe Halbwertzeit. Die beiden erfolgreichsten Ausnahmen: Die von Jarosław Kaczyński geführte nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedlivość (zu Deutsch: Recht und Gerechtigkeit, abgekürzt: PiS) und die proeuropäische, konservativ-liberale Platforma Obywatelska (deutsch: Bürgerplattform, PO) des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rats Donald Tusk. Die polnische Gesellschaft ist stark polarisiert. Zwischen den beiden Gruppen tobt eine Art Kulturkampf. Die Kombination aus stimmungsorientierter Sprunghaftigkeit und Chauvinisums ist zum Markenzeichen der PiS geworden. Nach acht Jahren Kampf gegen das demokratische System durch die PiS-Regierung besteht dennoch große Hoffnung auf einen Wandel: Mehrere aktuelle Umfragen zeigen, dass die PiS mindestens einen Koalitionspartner braucht, um weiterhin regieren zu können.
PiS und die vereinte Opposition
Die PO ist in den Jahren der Opposition im Sejm mehr und mehr in die gesellschaftliche Mitte gerückt. Vor dem Wahlkampf hat sie sich mit der gemäßigt-linken Zieloni (Die Grünen), der ebenfalls im gemäßigt-linken Lager zu verortenden Inicjatywa Polska (Die Initiative Polen) sowie mit der liberalen Partei Nowoczesna (Die Moderne) zusammengetan. Der Name des Bündnisses: Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition, abgekürzt KO). Die Allianz ist weltanschaulich und hinsichtlich seiner Wählerschaften nicht gerade homogen. Was die Partner vor allem zusammenhält, ist die Kritik an der Grundhaltung der PiS und ihrem Führungspersonal.
Neben der KO und der PiS dürften nur drei weitere Parteien eine Chance haben, den Einzug bzw. Wiedereinzug ins Parlament zu schaffen. Die PiS sehen aktuelle Umfragen bei knapp 33 Prozent, die KO bei 31 Prozent. Auf dem dritten Platz folgt das Wahlbündnis Trzecia Droga (Dritter Weg) mit rund 13 Prozent. Das Bündnis zwischen der agrarischen, konservativ-zentristischen Partei Polskie Stronnictwo Ludowe (Polnische Volkspartei, PSL) und der liberal-zentristischen Polska 2050 (Polen 2050) sorgte für eine Überraschung. Ideologisch gelten beide als kleinere Schwestern der notorischen Antipoden PiS und KO. Was im Großen undenkbar erscheint, war im Kleinen möglich: Die Parteiführer von PSL und Polska 2050 haben eine Koalition geschmiedet, die eine Alternative zu den beiden dominierenden politischen Giganten schaffen will. Das klassisch linke Segment des politischen Spektrums anbelangt, kann sich lediglich die Lewica (Die Linke) Hoffnung auf eine parlamentarische Repräsentanz machen. Derzeit liegt die Partei bei etwa elf Prozent. Auch der rechtsextremen und dezidiert euroskeptischen Partei Konfederacja (Die Konföderation) werden gute Chancen ausgerechnet, in den Sejm einzuziehen, auch wenn ihre Umfragewerte wenige Tage vor dem Urnengang eher schwächeln. Für die PiS wäre das Aus der Konfederacja eine schlechte Nachricht, käme ihr damit doch ein potenzieller Koalitionspartner abhanden.
Dank der ungewöhnlichen Geschlossenheit der gesamten Opposition hat PiS abgesehen von Konfederacja keinen natürlichen Koalitionspartner. Ein großer Triumph der Opposition war der Marsch der Millionen Herzen in Warschau, zu dem Donald Tusk seine Anhängerinnen und Anhänger für Anfang Oktober animiert hatte. Rund eine Million Menschen nahmen an dem größten Protest gegen eine Regierung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs teil.Unterstützt wurde er von allen Oppositionsparteien, aber auch von namenhaften Figuren aus Gesellschaft und Kultur.
Kernthemen des Wahlkampfes und (Anti)Kampagne
Die Wahlkampfagenda beherrschten gleich mehrere Themen. Der Tonfall in den zurückliegenden Wochen war dabei ein fast schon apokalyptischer. Häufig fiel das Wort der Schicksalswahl.
Ein zentrales Thema sind die Frauenrechte. Der Status der Frau hat sich nach der Verschärfung des Abtreibungsrechts im Jahr 2020 verschlechtert. Seitdem ist die Geburtenrate nachweislich gesunken. Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollen, tun dies in der Regel im benachbarten Tschechien. Aufgrund der rechtlichen Konsequenzen weigern sich viele Ärzte, eine Abtreibung selbst dann vorzunehmen, wenn für eine Patientin aufgrund einer komplizierten Schwangerschaft Lebensgefahr besteht. Immer wieder kommt es zu Ermittlungen gegen Gynäkologen. Gleichzeitig sind mehrere Frauen tragischerweise an den Folgen einer nicht durchgeführten Abtreibung verstorben. Aus diesen Gründen ist die Sorge vor einer Schwangerschaft gestiegen und die Geburtenrate auf den niedrigsten Wert seit dem Zweiten Weltkrieg gesunken. PiS-Chef Jarosław Kaczyński sorgte für Empörung, als er die niedrige Rate darauf zurückführte, dass junge Frauen zu hedonistisch seien und den Alkoholkonsum der Gründung einer Familie bevorzugen würden. Die Opposition verzeichnet Zuspruch in der Wählerkohorte jüngerer Frauen, auch wegen des restriktiven Abtreibungsrechts.
Ein den Alltag aller Wählergruppen beherrschendes Problem ist die Inflation. Die Schuld am Anstieg der Lebenshaltungskosten schiebt jedes der beiden Lager dem jeweils anderen zu. Donald Tusk wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass es die PiS in den acht Jahren ihrer Regierung versäumt habe, die Bürgerinnen und Bürger in Rahmen einer entsprechenden Wirtschaft- und Sozialpolitik gegen den Unbill der ökonomischen und geostrategischen Krisen zu schützen. Darüber hinaus steht die PiS in der Kritik, weil sie das Land dank ihrer Rechtsstaatlichkeits- und Energiepolitik um Millionen von Euro aus dem Europäischen Wiederaufbaufonds bringt.
In der heißen Phase des Wahlkampfes spielte die PiS-Regierung die klassisch-populistische Karte und drückte die Spritpreise an den Tankstellen des staatlichen Orlen-Konzerns auf ein Niveau deutlich unterhalb des Marktpreises. Dadurch wurde auch die Inflation künstlich entschleunigt. Die Regierung sonnte sich im schalen Licht ihres Aktionismus. Das Land befindet sich seither in einem regelrechten Tankrausch. An vielen Tankstellen ging schon nach wenigen Stunden der Sprit aus. Auch die PiS kann die Gesetze des Marktes nicht überlisten.
Ein weiterer Schwerpunkt des Wahlkampfes ist das Thema Sicherheit. Dieses hat zwei Dimensionen: die illegale Migration und die geostrategischen Herausforderungen des Ukraine-Kriegs. Immerhin in einem Punkt sind sich Regierung und Opposition einig, nämlich in der Unterstützung der Ukraine. Russland ist das gemeinsame Feindbild. Auch in Fragen bezüglich Modernisierung, Professionalisierung und Aufrüstung der polnischen Armee gibt es keinen Dissens zwischen PiS und PO. Die PiS hat in ihren Regierungsjahren die Verteidigungsausgaben signifikant erhöht und in den USA moderne Waffentechnologie erworben. In der gegenwärtigen Situation kann sie das nun als vorausschauende Politik vermarkten.
Gegen die PO und Donald Tusk hat die Regierung von Anfang an schwerstes kampagnetechnisches Geschütz aufgefahren. Höhepunkt der Anti-Tusk-Propaganda der PiS war die Veröffentlichung eines geheimen strategischen NATO-Dokuments, in dem das Worst-Case-Szenario für die Verteidigung des polnischen Territoriums im Falle eines Angriffs Russlands entworfen wurde. Dieses Dokument stammt aus dem Jahr 2011, einer Zeit, als die PO regierte. Es wurde allerdings von polnischen Generälen ausgearbeitet und vom damaligen Präsidenten Lech Kaczyński gebilligt. Die PiS missbrauchte dieses Dokument nun fälschlicherweise, um Tusk zu unterstellen, die östlichen Gebiete des polnischen Staatsgebiets an Russland abtreten zu wollen.
Tusk wird in den Wahlspots der PiS, aber auch in den regierungsnahen Medien als verräterischer Vasall der deutschen Regierung und der Brüsseler Bürokratie dargestellt. Berlin und Brüssel werden oft mit dem Narrativ von Diktat und Unterdrückung der polnischen Souveränität in Verbindung gebracht. Als ehemaliger Präsident des Europäischen Rates ist Tusk in beiden Hauptstädten natürlich bestens vernetzt und genießt ein hohes Ansehen. Er steht für einen klar proeuropäischen Kurs und hält die Partnerschaft mit Deutschland hoch. All das wurde in den Wahlkampf-Videos der PiS immer wieder in Zusammenhang mit dem wachsenden Zustrom illegaler Migranten nach Europa gebracht, insbesondere nachdem aufgedeckt wurde, dass das polnische Außenministerium und die konsularischen Dienste Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten Visa gegen Geldleistungen ausgestellt hatten. Die Regierung führte Kontrollen an den Außengrenzen des Landes ein, und ihre Videos zeigen Tusk, der angeblich einem EU-Umsiedlungsmechanismus zustimmt, verbunden mit Bildern von Migranten voller Aggression und Gewaltbereitschaft, die Angst erzeugen sollen. Die PiS tut alles, um die Aufmerksamkeit von eigenen Fehlern zu lenken und Stimmen des rechtsextremen Lagers zu bekommen. Damit setzt sie sogar die guten Beziehung mit der Ukraine aufs Spiel. Ein einschlägiges Beispiel dafür ist die Einfuhrblockade von ukrainischem Getreide nach Polen (und auch in die Slowakei und Ungarn). Auf Druck ihrer eigenen Landwirte hin verboten die Länder die Einfuhr von günstigerem Getreide aus der Ukraine. In Polen entwickelte sich der Streit bis hin zu einer Aussetzung von Waffenlieferungen aus Polen an die Ukraine.
Fast alle diese Themen finden sich in dem von der Regierung initiierten Referendum aufgegriffen, das parallel zu den Parlamentswahlen am Sonntag stattfindet. Die Fragen sind so suggestiv gestellt, dass man eigentlich nur mit einem Nein antworten kann. Das Kalkül der PiS: ihren Stimmanteil durch das Referendum weiter zu erhöhen. Die Opposition hat indes ihren Anhängern dringend empfohlen, sich nicht am Referendum zu beteiligen.
Die Fragen des Referendums:
(1) Unterstützen Sie den Ausverkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, was zu einem Verlust der Kontrolle der Polinnen und Polen über strategische Wirtschaftsbereiche führt?
(2) Unterstützen Sie eine Anhebung des Renteneintrittsalters, einschließlich der Wiedereinführung des erhöhten Renteneintrittsalters von 67 Jahren für Männer und Frauen?
(3) Unterstützen Sie die Beseitigung der Barriere an der Grenze zwischen der Republik Polen und der Republik Belarus?
(4) Unterstützen Sie die Aufnahme Tausender illegaler Immigranten aus dem Nahen Osten und Afrika gemäß dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Zwangsumsiedlungsmechanismus?
Das Referendum findet genau zwanzig Jahre nach dem Volksentscheid statt, in dem Polen seinen Beitritt zur Europäischen Union beschlossen hat. An diesem symbolischen Jahrestag werden die Polinnen und Polen nun über ihre Zukunft im Bündniss der demokratischen Staaten entscheiden. Das Ergebnis dürfte knapp ausfallen.
Barbora Krempaská ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.