EN

Polen
Präsidentschaftswahl: Weder direkt, noch gleich, noch allgemein

Die Nationalkonservativen nutzen die Corona-Krise, um sich und ihrem Präsidenten einen unlauteren Vorteil zu verschaffen
A copy of the 'election package' documents is photographed for illustration photo with Poczta Polska mailbox in the background. Krakow, Poland on May 2nd, 2020. A voting package leaked in the upcoming correspondence election with a full list of candidates for Presidential office and with name and surname statement on secret voting. Despite coronavirus pandemic, Poland's government plans to hold the presidential election on May 10 in the form of a correspondence vote.
© picture alliance / NurPhoto

Heute ist Mittwoch, der 6. Mai. Es sind noch drei Tage bis zur geplanten Präsidentschaftswahl in Polen, und es ist immer noch nicht bekannt, ob und wann die Wahl stattfinden wird.

Bisher setzte der einzige verbindliche Gesetzesbeschluss die turnusgemäßen Präsidentschaftswahlen (noch in Wahllokalen) für den 10. Mai an. Aufgrund der Pandemie verabschiedete das polnische Parlament, der Sejm, in dem die regierende national-konservative PiS-Partei eine knappe Mehrheit hat, im April einen Gesetzentwurf zur Durchführung einer Briefwahl. Mit 50 zu 35 Stimmen lehnte der Senat gestern Abend diesen Entwurf ab. Damit kehrt er heute zurück in den Sejm, wo noch an diesem Abend darüber abgestimmt werden soll.

Wenn die nationalkonservative Mehrheit im Sejm dem Gesetzesentwurf zustimmt, wird Präsident Andrzej Duda ihn sofort unterzeichnen und die Briefwahl kann – und wird – an diesem Wochenende stattfinden. Mit anderen Worten, die Polen werden erst drei Tage vor der Wahl erfahren, ob und wie sie abstimmen können. Während Amtsinhaber Duda aufgrund der Coronakrise täglich in den Medien erscheint, war es seinen Herausforderern nicht einmal möglich, Wahlkampf zu machen: Versammlungen waren verboten, Wahlplakate konnten aufgrund der Ausgangssperre kaum gelesen werden.

Darüber hinaus hat eine Briefwahl in Polen noch nie stattgefunden. Ein Vorbereitungsprozess, der in anderen Ländern jahrelang geplant wird, soll in Polen nur ein paar Tage dauern. Ist das logistisch möglich? Laut dem Covid-19-Gesetz werden die Wahlen nicht durch das unabhängige nationale Wahlkomitee organisiert, sondern vom „Ministerium für Staatsvermögen“ zusammen mit der polnischen Post. Politiker, nicht Richter, werden diesmal die Stimmzettel vorbereiten und zählen. Die Regierung druckt die Stimmzettel und sogenannte „Wahlpakete“ ohne jegliche Rechtsgrundlage. Und was wird passieren, falls nicht genug Zeit für die gesamte Postlogistik zur Verfügung steht? Dann könnte die Sejm-Sprecherin die Wahlen auf den 17. oder sogar den 23. Mai verschieben, falls der Premierminister diesen Samstag zum Feiertag erklärt (Wahlen in Polen dürfen nur am Sonntag oder an einem Feiertag stattfinden).

Die nationalkonservative PiS-Partei ist äußerst entschlossen, die Präsidentschaftswahlen so bald wie möglich per Briefwahl abzuhalten. Experten und die Opposition – und übrigens auch die Mehrheit der Polen – sagen, dass die Wahl auf keinen Fall in drei Tagen stattfinden kann und soll. Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) mit Sitz in Warschau kritisierte das Gesetz als unvereinbar mit internationalen Standards für demokratische Wahlen. Andere Institutionen, sowohl internationale (z. B. der Europarat) als auch nationale (der Bürgerrechtsbeauftragte), äußerten ebenfalls Kritik. Der polnische Oberste Gerichtshof bezeichnete die Wahl bereits als verfassungswidrig. „In der vorgeschlagenen Form werden die Wahlen weder direkt, noch gleich, noch allgemein sein“, kommentierte Professor Adam Strzembosz, früherer Präsident des Obersten Gerichtshofs und einer der angesehensten Juristen des Landes, die Vorlage. Mitte April nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zur Reaktion der EU-Länder auf die Verbreitung von Covid-19 an. In einem ihrer Punkte wurden die geplanten Präsidentschaftswahlen in Polen als Schritte bezeichnet, „die mit europäischen Werten völlig unvereinbar“ seien.

Die Hauptkritik der Opposition ist jedoch nicht nur rechtlicher Natur. Es geht um die Bedrohung für Leben und Gesundheit von Millionen von Wählern, die die Wahl im Mai verursachen wird. Die Stimmzettelumschläge können leicht mit dem Virus kontaminiert werden. In der neuen Gesetzgebung gibt es jedoch keine Bestimmungen für ihre Desinfektion oder dafür, wie die Stimmzettel sicher zurückgegeben werden könnten. Natürlich müssten sie auch geöffnet und ausgezählt werden. Aufgrund vor Covid-19 gibt es jedoch nicht genügend Freiwillige, um diese Aufgabe durchzuführen.

Ob die Wahlen im Mai - ob traditionell oder postalisch – durchgeführt werden, ist jedoch noch nicht ausgemacht. Wie oben erwähnt, soll das alles heute Abend im Sejm entschieden werden. Das Ergebnis der entscheidenden Abstimmung ist immer noch nicht absehbar. Wie ist eine solcher Zustand möglich in einem Land, das in den vergangenen fünf Jahren von Jarosław Kaczyński mit eiserner Hand regiert wurde? In einem Land, in dem staatliche Institutionen tun, was der Parteiführer ihnen vorschreibt? 

Um diese Frage zu beantworten, muss man wissen, dass das, was als PiS-Regierung bezeichnet wird, tatsächlich eine Koalition von PiS und zwei kleinen Parteien ist, nämlich „Solidarna Polska“ (Solidarisches Polen) und „Porozumienie“ (Verständigung). Jede dieser kleinen Gruppierungen hat 18 Abgeordnete, ohne die die PiS-Partei keine Mehrheit hätte. Die Wahlen im Mai werden von Jarosław Gowin, dem Vorsitzenden der Partei „Verständigung“, abgelehnt, die manchmal als ein weicherer Flügel der PiS bezeichnet wird und sich mehr auf Wirtschaft und Unternehmertum konzentriert. Bis vor kurzem war Gowin stellvertretender Ministerpräsident und Wissenschaftsminister, trat aber zurück, nachdem er sich den Änderungen des Wahlgesetzes widersetzt hatte. Wenn Gowin und mindestens vier seiner Abgeordneten zusammen mit der Opposition stimmen, würde die Wahl im Mai nicht möglich sein.

Es ist indes schwer vorstellbar, dass Gowin mit allen Oppositionsparteien – von der rechtsextremen „Konföderation“ über die Bürgerkoalition bis zu den Linken – eine neue Regierungsmehrheit bilden kann. Es wird jedoch gemutmaßt, dass er sich mit der christdemokratischen „Polnischen Volkspartei“ (PSL) zusammentun könnte. Ein solcher Block würde bei den nächsten Parlamentswahlen eine konservative Alternative zu PiS darstellen. Das Ergebnis der Abstimmung im Sejm, ebenso wie ihre langfristigen Folgen, sind aktuell nicht vorhersehbar.

Falls die Opposition heute Abend die Abstimmung gewinnt und die Präsidentschaftswahlen verschoben werden müssen, bleibt die Frage: Wann werden sie denn abgehalten? Jede Partei und jeder Kandidat hat seine eigene Strategie.

Die Bürgerkoalition und ihre Kandidatin Małgorzata Kidawa-Błońska fordern, die Wahl zu boykottieren, da sie gegen die Verfassung verstoße. Es ist sehr wahrscheinlich, dass PiS genau das will. Umfragen zufolge würde Duda im Falle einer geringen Wahlbeteiligung schon in der ersten Runde gewinnen. Da die Mehrheit der Wähler der Bürgerkoalition ihrer Kandidatin zustimmt und erklärt, nicht zu wählen, ist ihre Unterstützung laut Umfragen sehr gering. Viele Wähler können nicht verstehen, was dieser Boykott bezwecken soll. Laut Kidawa-Błońska besteht die einzige Lösung darin, den Ausnahmezustand aufgrund der Pandemie zu erklären und echte Wahlen erst im Mai 2021 zu organisieren.

Zwei Mitte-Rechts-Kandidaten, Władysław Kosiniak-Kamysz von der PSL und der unabhängige Szymon Hołownia, versuchen, die von Kidawa-Błońska hinterlassene Lücke zu besetzen. Sie rufen auch den Premierminister auf, den Ausnahmezustand zu erklären und die Wahl erst später im Jahr zu organisieren. Beide sehen ihre Chance, gegen Andrzej Duda in der zweiten Runde anzutreten, um ihre eigene politische Bewegung zu stärken. Robert Biedroń, Kandidat der Linken, spricht über Wahlen im Herbst, hat aber in diesem Rennen sowieso keine Chance.

Ein weiterer Vorschlag, der nicht unkommentiert bleiben darf, ist der von Jarosław Gowin selbst. Er sagt, die Verfassung sollte geändert werden, um die Amtszeit von Andrzej Duda bis 2022 zu verlängern, und zwar ohne das Recht, erneut zu kandidieren. Diese Idee wurde zwar von PiS unterstützt, aber von keiner der Oppositionsparteien begrüßt. PiS glaubt, dass dies die zweitbeste Idee unmittelbar nach der Wahl im Mai ist. „Social Distancing“ macht den Wahlprozess ungleich und begünstigt den Amtsinhaber. Präsident Duda ist der einzige, der durch das Land reist, dem medizinischen Personal dankt, Fabriken besucht. Seinen Gegnern bleibt nur, Online-Veranstaltungen und Pressekonferenzen durchführen. Wahlen im Herbst oder im Mai 2021 würden die Chancen von Duda auf eine Wiederwahl verringern, da die Polen die negativen Folgen der Wirtschaftskrise nach der Covid-19-Krise spüren werden. Andererseits gäben Wahlen im Jahr 2022 der PiS-Partei Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung und dadurch auch auf ein besseres Ergebnis. Jarosław Kaczyński kann es sich nicht leisten, die Präsidentschaftswahl jetzt zu verlieren. Ohne die Mehrheit im Senat und mit knapper Mehrheit im Sejm wäre es für ihn schwierig, die von ihm gewünschten autoritären Veränderungen durchzusetzen.

Laut der jüngsten Umfrage der Zeitung „Rzeczpospolita“ würden 32% der Polen gerne die Wahlen um ein Jahr verschieben. Nur ein Viertel der Befragten ist mit dem aktuellen Datum einverstanden. Alle Optionen liegen auf dem Tisch. Eines der wichtigsten Spiele der polnischen Politik in den vergangenen Jahren geht gerade seinem Finale entgegen. Eines wissen wir mit Sicherheit: Das Ergebnis dieses Spiels könnte die politische Landschaft Polens verändern und die Tür für Wandel öffnen. Eine Sache, die wir überhaupt nicht wissen, ist, wann die Polen ihren neuen Präsidenten wählen werden.

Milosz Hodún ist Referent der liberalen Nowoczesna-Partei und Vorstandsmitglied von „Projekt: Polska“. Seine Interessensfelder sind vergleichendes Verfassungsrecht und Föderalismus. Bis September 2015 war er als Experte im Rahmen des „Presidential Experts' Program“ in der Kanzlei des Präsidenten der Republik Polen tätig. Er ist Vorstandsmitglied des Europäischen Liberalen Forums.