Parlamentswahl in Serbien
Serbien: Auf dem Weg zum Einparteienstaat?
„Ich bin schon lange in der Politik, aber so einen Moment wie diesen habe ich noch nie erlebt.“ Der Präsident des Landes und Vorsitzende der Serbischen Fortschrittspartei (SNS), Aleksandar Vučić, zeigte sich am Wahlabend am vergangenen Sonntag sichtlich bewegt. Die SNS habe bei den Bürgern großes Vertrauen gewonnen, „das höchste jemals in Serbien“ gab er zu Protokoll. Über sechzig Prozent der Stimmen hat die SNS auf sich vereinen können und ist im künftigen Parlament mit 191 von insgesamt 250 Sitzen vertreten. Diese Dreiviertelmehrheit, die jede Verfassungsänderung zumindest denkbar macht, wird von den Wahlsiegern als Bestätigung des politischen - zunehmend autoritären - Kurses interpretiert.
Die Wahlkommission hatte 21 Listen zu dieser Wahl zugelassen. Neben den beiden Regierungsparteien, der SNS und der Sozialistischen Partei (SPS) und vier ethnischen, machtpolitisch allerdings weitestgehend irrelevanten Minderheitsparteien, die von der Sperrklausel nicht betroffen waren, schaffte es nur noch die nationalkonservative SPAS („Rettung“)-Partei des populären ehemaligen Wasserballspielers und Neu-Belgrader Bürgermeisters Aleksandar Šapić mit 4,2% über die Drei-Prozent-Hürde. Wäre die erst vor kurzem abgeschaffte Fünf-Prozent-Hürde noch gültig, könnte die amtierende Regierungskoalition die Parlamentssitze nahezu vollständig unter sich aufteilen.
Wahlen unter Pandemiebedingungen
Zwar wirft die geringe Wahlbeteiligung von rund fünfzig Prozent – die niedrigste seit zwanzig Jahren – einen Schatten auf das Ergebnis, aber Versuche von einzelnen Oppositionsvertretern, vor diesem Hintergrund die Legitimität des neu gewählten Parlaments insgesamt anzuzweifeln, dürften vermutlich nach hinten losgehen. Die Wahl fand aufgrund der Corona-Pandemie zwei Monate verzögert statt, und in dieser Zeit ist die Zustimmung zur Regierung und insbesondere zum Präsidenten offensichtlich noch einmal gewachsen. Nicht nur den insgesamt milden Verlauf der Pandemie in Serbien, der das Gesundheitssystem bisher vor einem größeren Stresstest bewahrte, hat man der Regierung positiv angerechnet; auch Einzelmaßnahmen wie die Zuteilung von 100 Euro Corona-Hilfe für jeden volljährigen Bürger kamen bei den Wählern gut an.
Allerdings wurde nur einen Tag nach der Wahl die amtliche Aufklärungsarbeit während der Corona-Krise mit einem ungeheuerlichen Vorwurf konfrontiert: Das investigative unabhängige Balkan-Recherchenetzwerk „BIRN“ berichtete mit Verweis auf Einsicht in das staatliche Covid-19-Erfassungssystem, dass sowohl die Infektionszahlen als auch die Todesfälle in den Tagen vor der Wahl erheblich höher als offiziell angegeben gewesen seien und höchstwahrscheinlich manipuliert wurden.
Boykott gescheitert – Opposition vor Neuanfang
Die im vergangenen Herbst geschmiedete Boykott-Front um das „Bündnis für Serbien“ (SzS) stellte sich in den zurückliegenden Monaten als brüchig heraus. Wichtiger Grund dafür ist die mangelnde Homogenität. Unter dem Schirm hatten sich die rechtsklerikale Dveri, die nationalkonservative NS („Volkspartei“) von Ex-Außenminister Vuk Jeremić und auch die proeuropäische Demokratische Partei (DS) zusammengeschlossen. Vor allem dort gab es von Anfang an starken innerparteilichen Widerstand gegen das Bündnis mit den xenophoben Dveri.
Entscheidend geschwächt wurde Das „Bündnis für Serbien“ dann zu Jahresbeginn, als Präsident Vučić mit der Absenkung der Wahlhürde einen strategischen Köder auslegte, woraufhin einige in der Boykottfront auch tatsächlich schwach wurden und sich für eine Wahlteilnahme entschieden. Auch die liberale Bewegung für Freie Bürger (PSG), die sich erst im Januar für einen Boykott ausgesprochen hatte, erklärte im Mai, nun doch bei den Wahlen anzutreten, sah sich daraufhin heftigen Verräter-Anfeindungen ausgesetzt und konnte im Endeffekt nur 1,8% der Stimmen auf sich vereinen.
All dies zusammengenommen verstärkte das von vielen Beobachtern ohnehin erwartete Oppositionsdesaster bei den Wahlen. Diejenigen, die am Boykott festhielten, fühlten sich am Wahlabend allerdings bestätigt und behaupteten, das Regime habe sich mit diesem Wahlergebnis „vollkommen bloßgestellt“. So jedenfalls der frühere Belgrader Bürgermeister und heutige Chef der Partei Freiheit und Gerechtigkeit (SSP), Dragan Djilas. Er hatte bereits vor Wochen die These aufgestellt, bei den bevorstehenden Parlamentswahlen werde weniger die künftige Regierung als die künftige Opposition gewählt. Ob nun eine Partei mehr oder weniger über die Dreiprozenthürde rutsche, so Djilas damals, einen Einfluss auf Serbiens Geschicke habe das nicht. Der Boykott habe hingegen zumindest ein Ziel erreicht: Die demokratischen Defizite des Landes würden nun auch im Westen wahrgenommen – und auch auf EU-Ebene verstärkt thematisiert.
Nüchtern betrachtet muss das Boykott-Konzept eines weitgehend gemeinsamen Agierens aufgrund unzureichender Voraussetzungen für freie und faire Wahlen aber wohl als gescheitert betrachtet werden. Die für alle sichtbar bröckelnde Boykottfront und die rasche Aufstellung immer neuer Listen mit Abtrünnigen anderer Oppositionsparteien zeigten einmal mehr die mangelnde Strategiefähigkeit und Zerstrittenheit der beteiligten Akteure. Der Programmdirektor des angesehenen serbischen Center for Research, Transparency and Accountability (CRTA), Raša Nedeljkov sagte im Hinblick auf die Oppositionsparteien erst kürzlich, dass es nicht ausreiche, einfach in allen Fragen gegen Vučić zu sein, um das Vertrauen der Bürger zu gewinnen. Macht- und weithin bedeutungslos werden sie sich nun – mit frischen Kräften - im außerparlamentarischen Raum neu finden, sortieren und aufstellen müssen.
„Minimal Standards Fulfilled – Democracy Endangered“
So lautet die Überschrift eines vorläufigen Wahlberichts von CRTA, das zum wiederholten Male und umfangreicher als die OSZE den Wahlprozess beobachtet und analysiert hat. Im Hinblick auf den Wahltag und die vorangegangenen Wochen spricht CRTA von den schlechtesten der bisher beobachteten Wahlen. Unregelmäßigkeiten und Zwischenfälle wären in einer Bandbreite von acht bis zehn Prozent der Wahllokale registriert worden und damit doppelt so viele wie 2016 und 2017. Die Leiterin der OSZE-Wahlbeobachtungsmission (ODIHR), Urszula Gacek, gab am Tag nach der Wahl in einer Pressekonferenz zu Protokoll, dass der Einsatz des Staatspräsidenten, der gleichzeitig Parteivorsitzender sei, die Grenze zwischen Amtspflichten und Wahlkampf verletzt habe und somit ein Verstoß vorliege gegen die Verpflichtung, die Trennung zwischen Staat und Parteien zu respektieren.
Vor dem Hintergrund des dauerwahlkämpfenden Präsidenten, dessen mediale Präsenz nahezu rund um die Uhr zu besichtigen war, kann dies nur als höfliche Umschreibung verfassungsrechtlicher Unzulässigkeit bezeichnet werden.
Vučićs Strategie ist aufgegangen
Die Rechnung des Präsidenten ist allerdings ohne Zweifel aufgegangen. Die Boykottfront konnte er erfolgreich schwächen, die Opposition mit der Absenkung der Wahlhürde weiter zersplittern. Das neue Parlament kann als für ihn maßgeschneidert bezeichnet werden, die Veränderungen werden voraussichtlich rein optischer Natur sein. Unklar bleibt einstweilen noch, wie die kommende Regierung sich zusammensetzen wird. Bis spätestens Oktober kann der Präsident sich damit Zeit lassen. Einschneidende Rochaden hat er aber bereits angekündigt. Auch die Besetzung des Premierpostens steht noch nicht fest, obgleich der bisherigen Amtsinhaberin, Ana Brnabić, von Beobachtern noch die größten Chancen eingeräumt werden. Das Parlament soll sich Ende August konstituieren, so die offizielle Ankündigung.
Insgesamt bemerkenswert ist die Entwicklung der Serbischen Fortschrittspartei, die erst 2008 als Abspaltung von der Serbischen Radikalen Partei (SRS) gegründet wurde. Unter der Führung von Aleksandar Vučić hat sie sich zur alles beherrschenden politischen Kraft im etabliert. Als funktionierendes Klientelsystem dominiert sie die staatlichen Institutionen. Aufstieg und Karrieresprünge sind ohne Parteimitgliedschaft – auch in Unternehmen, die dem Präsidenten nahestehen - kaum mehr möglich.
Ist die EU noch Ziel serbischer Politik?
Politische Beobachter und Journalisten sind schon länger der Auffassung, dass der serbische Präsident den Kurs der Westintegration inzwischen aufgegeben hat. Er blicke wirtschaftlich noch nach Westen, aber politisch zunehmend nach Osten, heißt es etwa in Kommentaren auch der überregionalen deutschen Presse. Nicht zuletzt deshalb, weil tatsächliche rechtsstaatliche Reformen über kurz oder lang auch sein eigenes Machtgefüge gefährden könnten.
Die politischen Entwicklungen im Land wie auch der bisherige Verlauf der EU-Beitrittsverhandlungen, die eher vor sich hindümpeln, geben dieser Auffassung reichlich Nahrung. Von insgesamt 35 Kapiteln sind gerade mal 18 geöffnet. Seit Beginn der Verhandlungen 2014 hat sich Serbien nach Angaben der NGO „Freedom House“ zu einem „hybriden System“ entwickelt und im Ranking von „Reporter ohne Grenzen“, dass die Medien- und Pressefreit jährlich analysiert, um 33 Plätze nach unten gerutscht.
Zur EU gibt es amtlicherseits allenfalls neutrale, aber kaum positive Stellungnahmen, wie die NGO CRTA erhoben und dokumentiert hat. Während der Corona-Krise wurde europäische Solidarität offen in Abrede gestellt, China dagegen gehuldigt, ihr Präsident als „Freund“ und „Bruder“ großflächig plakatiert.
Jenseits von Symbolpolitik sind dies alles beunruhigende Entwicklungen, die vor dem Hintergrund künftig fehlender pro-europäischer Stimmen im Parlament und äußerst schwacher außerparlamentarischer Oppositionskräfte nur hoffen lassen, dass der vielzitierte Hölderlin-Satz sich auch hier bewahrheitet: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“