Israel
Solidarität in Israel: Ein traumatisiertes Land rückt zusammen
Die Feuer in den Häusern der Kibbuze am Gazastreifen waren kaum erloschen und schon mobilisierten sich im gesamten Land Freiwillige, um den Opfern und Überlebenden des Massakers zu helfen. Es wurden Mahlzeiten zubereitet, Kleidung gesammelt und die Versorgung von Vertriebenen, Soldaten und Sicherheitskräften sichergestellt. Der Beitrag für die Gemeinschaft und für das Land wirkt in dieser Ausnahmesituation wie eine kollektive Therapie, um dem Schock und den eigenen Traumata zu begegnen.
Engagement über alle Gesellschaftsgrenzen hinweg
Weiter entfernt, im Zentrum Israels, nahmen viele Israelis Vertriebene und Überlebende in ihren eigenen Häusern auf. Schulen und Gemeindeeinrichtungen begannen, Lebensmittel, Hygieneprodukte, Matratzen und Decken zu sammeln. Diese wurden als Hilfspakete in die unmittelbare Kriegszone und die ersten Flüchtlingszentren geschickt. Freiwillige jeden Alters und aller Gesellschaftsschichten engagierten sich, sei es durch einen aktiven Beitrag oder durch eine Spende. Neben der materiellen Hilfe boten Psychologen ihre Unterstützung für die traumatisierten Überlebenden an. Prominente aus Sport, Kultur und Entertainment besuchten die Flüchtlingszentren und bereiten vor allem den Kindern einen kurzen Moment der Ablenkung. Auch Tierschützer zeigten sich solidarisch und durchkämmten die verwüsteten Gebiete, um überlebende Hunde und Katzen zu retten.
Spontanität, Kreativität, Solidarität
Die unmittelbare Gefahr durch den Krieg minderte die Solidarität der Israelis dabei nicht. Im Gegenteil schien sie, ihre Kreativität zu fördern. Ein Klempner installierte auf eigene Kosten mobile Duschen für Soldaten, ein anderer brachte Waschmaschinen an die Front, damit die Soldaten ihre Uniformen waschen konnten, die sie teilweise über zwei Wochen ununterbrochen getragen hatten. Chefköche überraschten die Frontsoldaten und Flüchtlingszentren mit Foodtrucks und allerlei Delikatessen.
Einen Monat nach Kriegsbeginn haben sich aus diesen spontanen Aktionen gut organisierte “Kriegshilfezentren“ entwickelt, die von Freiwilligen und zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen werden. Darunter befinden sich viele, die noch vor einem Monat gegen die Justizreform der Regierung protestierten und die Protestbewegungen anführten. Diese Aktivisten, zuvor von der ultrarechten Regierung noch als “Vaterlandsverräter“ und Anarchisten verleumdet, waren es, die in dieser kritischen Kriegssituation zu aller erst “Flagge zeigten“.
Logistik aus dem Schauspielhaus
Unser FNF-Team in Israel konnte ein ziviles Koordinierungszentrum in Jerusalem besuchen, das zweitgrößte im Land. Es befindet sich über mehrere Stockwerke in der bekannten Schauspielschule Nissan Nativ in Jerusalem. Wie viele andere Lehrstätten musste auch die Schauspielschule ihren regulären Betrieb während des Kriegs einstellen. Dieser Umstand ergibt sich nicht nur aufgrund der Raketenangriffe, sondern auch, weil viele Lehrkräfte und Studenten zum Reservedienst einberufen wurden. Gila Rockman, eine der Gründerinnen des Zentrums, führte uns durch das Gebäude. In “normalen Zeiten” leitet Gila das Department of Service and Citizenship am Shalem College in Jerusalem. Seitdem sie die jedoch die Schreckensbilder aus dem Süden erreichten, ließ sie alles stehen und liegen, um von morgens bis abends zusammen mit Vertretern von sieben NGOs im Koordinierungszentrum Nothilfe zu leisten.
Neben der strategischen Leitung und der Spendensammlung lastet auf ihr und ihrem Team vor allem die Koordination von über 3500 Freiwilligen – mehr Personal als in einem mittelständischen Unternehmen. Entsprechend ihrer Qualifikation und Verfügbarkeit werden die Freiwilligen eingeteilt. Die Dienstleistungen des Hilfszentrums umfassen die Sortierung der Lagerhalle, Verpackung und Verteilung von Hilfspaketen, Essenslieferungen, Fahrdienste, professionelle psychologische Betreuung, Babysitter und Sortierung von Kleider-, Bücher- und Spielzeugspenden. Einen Teil dieser Freiwilligen trafen wir in den Gängen und Stockwerken der Schauspielschule: Schüler und Studenten, aber auch Pensionäre und Personen, die sich mitten im beruflichen und privaten Leben befinden, viele sogar in Begleitung ihrer Kinder. Ein geschäftiges Treiben von Menschen, die nach dem 7. Oktober die verloren geglaubte Menschlichkeit in den Fluren des Hilfszentrums entschlossen wiederzubeleben beabsichtigen und aus eigenen Kräften ihrem Land und ihren Mitmenschen wieder auf die Beine verhelfen wollen.
Hilfe für alle Bewohner der Stadt
Mittlerweile ist das Zentrum auch in der Lage, auf spezifische Bedürfnisse von Bedürftigen zu reagieren. Hier zeigt sich der Innovations-Geist der Start-up Nation Israel, insbesondere beim professionellen Datenmanagement, das die Hilfe an die zehntausenden, weit verstreuten Evakuierten ermöglicht, sei es ins Hotel, an eine Privatadresse oder in einer Kollektivunterkunft. Digitale Formulare ermöglichen eine problemlose Erfassung sowohl der Freiwilligen als auch der Notdürftigen und erleichtern die Bearbeitung der vielen Anfragen.
Auf der Theaterbühne der Schauspielbühne hat man eine Lagerhalle eingerichtet. Dort finden sich nun Reis, Mehl und andere Lebensmittel neben Windeln und Babynahrung. Daneben liegen Unterwäsche, Isomatten und Schlafsäcke für Reservisten, die oft überstürzt an die Front geschickt wurden. Zwischen den Regalen eilen Freiwillige, die auf Anweisung des Callcenters Sendungen packen und wiederum an freiwillige Fahrdienste zur Auslieferung weiterleiten. Diese Unterstützung kommt nicht nur den Menschen zu Gute, die aus dem Kriegsgebiet evakuiert wurden (in Jerusalem sind über 30.000 Flüchtlinge untergebracht, in ganz Israel um die 200.000), sondern auch Menschen in Jerusalem, die durch den Krieg ihren Job verloren haben. Darunter befinden sich auch viele palästinensische Bewohner Ostjerusalems, denen die Hilfe der Freiwilligeneinrichtung zu Gute kommt.
Herausforderungen bleiben bestehen
In den wenigen Wochen seit Beginn des Krieges sammelte das Koordinierungszentrum in Jerusalem mehr als 5 Millionen Schekel an Unterstützung (ca. 1,16 Mio. EUR). Angesichts der Tatsache, dass dieser Krieg voraussichtlich noch mehrere Monate dauern wird und die Überlebenden und Evakuierten vorerst nicht in ihre Heimatorte an der Grenze zurückkehren können, stehen den Hilfszentren noch große Herausforderungen bevor.
Die staatlichen Institutionen in Israel arbeiten langsam und behäbig, und aufgrund der immensen finanziellen Belastungen, die dieser Krieg für Israel bedeutet, sind diese Hilfszentren dringend auf Spenden aus dem In- und Ausland angewiesen. Wenn Sie das Koordinierungszentrum und seine bewundernswerten Freiwilligen in ihrer wichtigen Arbeit unterstützen möchten, sind Ihre Spenden herzlich willkommen.