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Parlamentswahlen in Spanien
Spanien wählt die Mitte

Präsidentschaftskandidat Alberto Nunez Feijoo mit hochrangigen Mitgliedern der Volkspartei während der Feierlichkeiten zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen in Madrid

Präsidentschaftskandidat Alberto Nunez Feijoo während der Feierlichkeiten zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen in Madrid.

© picture alliance / DeFodi Images | ALTERPHOTOS/ DAVID CRUZ SANZ

Trotz der Zersplitterung des Parteiensystems entscheidet die Mitte den Ausgang der Wahlen in Spanien. Davon zeugt das Ergebnis der vorgezogenen Neuwahlen, die nach einer verheerenden Niederlage der Sozialisten bei Regional- und Kommunalwahlen im Mai von Premier Pedro Sánchez (PSOE) für den 23. Juli angesetzt worden waren.

Die Konservative Partido Popular (PP) gewinnt zwar enorm hinzu, erfüllt die Erwartungen aber dennoch nicht. Die PSOE bleibt erstaunlich stark und die rechtspopulistische Partei VOX erleidet dramatische Verluste. Das neue linkspopulistische Bündnis Sumar kann an die Erfolge ihrer Vorgängerformation Unidas Podemos nicht anknüpfen. Nach dem historisch schlechten Ergebnis bei den Regional- und Kommunalwahlen im Mai, entschied die liberale Partei Ciudadanos, nicht bei den Parlamentswahlen anzutreten. Sie wollen sich nun erst neu sortieren und zu den Europawahlen wieder antreten – eine innerparteilich durchaus umstrittene Entscheidung.

Nach dem vorläufigen Ergebnis kommt die PP auf 136 Sitze (+47), die PSOE auf 122 Sitze (+2), die rechtspopulistische Partei VOX auf 33 Sitze (-19) und Sumar auf 31 Sitze. Die regionalen nationalistischen Parteien aus Katalonien Esquerra Republicana und Junts por Catalunya kommen jeweils auf 7 Sitze (-6 bzw. -1). Von der Schwäche der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter profitieren die katalanischen Sozialisten, die erheblich zu Sánchez‘ Stärke beitragen. Die absolute Mehrheit im spanischen Kongress liegt bei 176 von 350 Sitzen.

Abgeordnete im spanischen Kongress (350 insgesamt - absolute Mehrheit bei 176)

Abgeordnete im spanischen Kongress (350 insgesamt - absolute Mehrheit bei 176)

© Innenministerium, eigene Darstellung
Wahlergebnis in Prozent

Wahlergebnis in Prozent

© Innenministerium, eigene Darstellung

Foto-Finish und Zitterpartie

Die bei vielen Spaniern extrem unbeliebte Minderheitsregierung der PSOE mit den Linkspopulisten von Unidas Podemos, die auch noch auf die Unterstützung von regionalen Separatisten aus Katalonien und dem Baskenland angewiesen war, hat die Wähler in die Arme der konservativen PPgetrieben, die mit dem langjährigen erfolgreichen Ministerpräsidenten der Autonomen Region Galizien, Alberto Núñez Feijóo, antrat. Doch anders als es alle Umfragen vorhersahen, reichte es nicht für eine Regierung der PP gemeinsam mit VOX – es ist ein bitterer Sieg für die spanischen Konservativen, die nach den überaus erfolgreichen Regional- und Kommunalwahlen vom 28. Mai zeitweise gar von einer Alleinregierung träumten.

Vielmehr ist es nun Sánchez, der seinem Ruf als gewiefter Taktiker wieder einmal gerecht wurde. Was für ein Comeback! Nach der verheerenden Wahlniederlage vom 28. Mai prognostizierten ihm viele Auguren einen dramatischen Absturz auf bis zu unter 100 Abgeordnete. Nun legt er nach einem starken Wahlkampfendspurt in der letzten Woche noch einmal um 2 Mandate zu und hat die besseren Karten bei der Regierungsbildung.

Drei Szenarien

Momentan erscheinen drei Szenarien wahrscheinlich:

  1. Premierminister Sánchez setzt seine Linkskoalition fort, braucht dazu aber nach Lage der Dinge auch mindestens die Enthaltung der katalanisch-separatistischen Partei Junts por Catalunya des ehemaligen Rädelsführers des illegalen Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien aus dem Jahr 2017, Carles Puigdemont. Dessen Immunität als Europaabgeordneter wurde gerade erst vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben; nun droht ihm die Auslieferung nach Spanien. Hier liegt ein großes innenpolitisches Risiko: Wenn schon die bisherige Koalition mit Linkspopulisten und Unterstützung moderaterer Separatisten und der ETA-Nachfolgepartei EH Bildu vielen Spanierinnen und Spaniern ein Dorn im Auge war, dürfte die Beteiligung der Junts das Fass zum Überlaufen bringen und VOX neuen Aufschwung verleihen. Zudem haben alle Regionalisten schon angekündigt, den Preis für eine Neuauflage der Koalition nach oben treiben.

    Wahrscheinlichkeit: 50%

 

  1. Eine Koalition aus PSOE, Sumar und PNV, den moderaten baskischen Nationalisten, und eventuell weiteren kleinen Partnern, die aus Staatsräson von der PP durch Enthaltung ins Amt gehievt würde. Dafür müsste Herausforderer und Wahlsieger Feijóo aber über einen großen Schatten springen – und dies könnte er relativ unbeschadet nur tun, wenn er die Volte als Verhinderung einer Beteiligung von Junts por Catalunya zu verkaufen vermag. Aber seine Anhänger dürften sich die Frage stellen, warum nicht ihrerseits die PSOE ihm, Feijóo, als Wahlgewinner zur Macht ohne VOX verhilft, indem sich Sánchez enthält. Das aber wird er nicht tun.

    Wahrscheinlichkeit: 10%

 

  1. Neuwahlen: Sollte es nach Einsetzen des neuen Kongresses im August kein Kandidat schaffen, im 2. Wahlgang eine einfache Mehrheit zu erlangen, könnte König Felipe VI. nach zwei Monaten Neuwahlen ausrufen, die vermutlich Ende November/Anfang Dezember stattfänden. Hier wäre Feijóo am Zug: Wenn die PP glaubhaft machen kann, nur ohne VOX regieren zu wollen, kämen Neuwahlen eher der PP zugute. Schließt die PP eine Koalition mit VOX nicht aus, könnte die PSOE nochmals zulegen.

    Wahrscheinlichkeit: 40%

Attacken wegen möglicher Koalitionspartner im Zentrum des Wahlkampfs

Der Wahlkampf war geprägt von Mobilisierungsbemühungen des eigenen Lagers und dem Verweis auf die möglichen Koalitionspartner der beiden großen Parteien. Für Menschen links der Mitte und auch für moderate Konservative war eine mögliche Regierungsbeteiligung der VOX der größte Angstfaktor, weswegen sie eher links oder auch die PP gewählt haben, um eine potenzielle Alleinregierung zu ermöglichen. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger rechts der Mitte waren die Fortsetzung einer Koalition der PSOE mit Linkspopulisten und regionalen Nationalisten aus dem Baskenland und Katalonien, sowie die Abneigung gegen Premierminister Sánchez selbst, die größten Mobilisierungsfaktoren. Am Ende war die Angst vor VOX im gesellschaftspolitisch überaus liberalen Spanien (so lehnen bspw. nur 4% die Homo-Ehe ab, unter ihnen also auch viele PP- und VOX-Wähler) größer als der Ärger über Sánchez‘ Abhängigkeit von regionalen Nationalisten.

Aber auch die Regierungsbilanz war Gegenstand der Debatten: So hatte ausgerechnet die linkspopulistische Gleichstellungsministerin Irene Montero durch eine handwerklich desaströse Strafrechtsreform bei Vergewaltigungsdelikten dafür gesorgt, dass verurteilte Straftäter vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden mussten. Statt Einsicht folgte Richterschelte – ein unglaublicher Ausfall. Aus rechtsstaatlicher Sicht genauso unbegreiflich: Ein Gesetz auf Initiative der linkspopulistischen Partei Podemos, das im Volksmund nur „Ley Okupas“ („Gesetz für Wohnungsbesetzer“) genannt wird, macht es Eigentümern nahezu unmöglich, Wohnungsbesetzer aus dem eigenen Privateigentum entfernen zu lassen.

In der einzigen Fernsehdebatte zwischen dem sozialdemokratischen Amtsinhaber Pedro Sánchez und seinem konservativen Herausforderer Albero Núñez Feijóo machte Premier Sánchez keine gute Figur. Er wirkte nervös und konnte sich gegen den angriffslustigen Feijóo nicht beweisen, auch wenn dessen Argumente einem Faktencheck nicht alle standhielten. An einer weiteren Debatte mit den Vorsitzenden der vier größten Parteien (PP, PSOE, VOX, Sumar) nahm Feijóoim Gegensatz zu Sánchez nicht teil – offenbar ein Fehler, der den konservativen Herausforderer auf der Zielgeraden Stimmen kostete.

Gute makroökonomische Bilanz der Regierung

In der Wirtschaftspolitik unterscheiden sich PSOE und PP wenig und Beobachter sind sich weitestgehend einig, dass die Sozialisten makroökonomisch keine schlechte Bilanz vorzuweisen haben: Sánchez´ Regierung hat es geschafft, die Inflation schneller und effektiver zu senken (1,9% im Jahresvergleich im Juni) als der Rest Europas, und die Arbeitslosigkeit bei 13% zu halten – für spanische Verhältnisse ein guter Wert.

VOX - Wer sind die spanischen Rechtspopulisten?

Auch wenn VOX nicht an der Regierung beteiligt sein wird, hat sie im Vorfeld für viel Panik in Europa gesorgt. Eine Einschätzung:

Anders als viele rechtspopulistische Parteien in Europa hat sich VOX („Stimme“) nicht aufgrund der Migrationspolitik oder einer Ablehnung der Europäischen Union gegründet, sondern aufgrund eines innerspanischen Konflikts. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, deren Agitation im illegalen Referendum 2017 kulminierte und auf die aus Sicht vieler Spanierinnen und Spanier von den etablierten Parteien zu milde reagiert wurde, hat den Nährboden für eine neue spanische Rechte geschaffen: VOX.

Die Bandbreite innerhalb der Partei ist groß: von unzufriedenen PP-Funktionärinnen und -Funktionären über erzkatholische Konservative zu Altanhängern der Franco-Partei Falange. Sie eint der Wunsch nach einem starken Nationalstaat mit einer Rückbesinnung auf katholische Familienwerte, ein sentimentaler Blick auf das untergegangene spanische Imperium und der Kulturkampf gegen Feminismus und bestimmte Minderheitenrechte. Im liberalen Spanien konnte sie mit letzterem aber weniger gut punkten als mit der Katalonienfrage, auch wenn gerade viele junge Spanier auf dem Land für VOX stimmten.

Zwar ähnelt VOX in vielen Positionen den anderen europäischen Rechtsparteien, aber es gibt auch Unterschiede. So können auch rechtspopulistische Spanierinnen und Spaniern mit völkischem Gedankengut zumeist wenig anfangen, zu divers ist das Land historisch, zu groß die Verbundenheit mit Lateinamerika. Letztere ist es auch, die VOX weniger fremdenfeindlich als andere Rechtspopulisten macht – wenngleich aufgrund der Betonung der „ibero-amerikanischen Sphäre“ mit neokolonialistischer Note. Einwanderinnen und Einwandern aus muslimischen Ländern steht man dagegen kritisch gegenüber, hier gab es zum Teil auch hässliche kommunikative Ausfälle, u.a. gegen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Schließlich unterscheidet VOX von anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien ihr bürgerlicher, z.T. auch großbürgerlicher Resonanzraum, der sich durch die jüngere spanische Geschichte - und eine prägnantere Klassengesellschaft als bspw. in Deutschland - erklärt.

Aus liberaler Sicht ist programmatisch besonders der Rückschritt bei Frauenrechten besorgniserregend, so soll das liberale Abtreibungsrecht in Spanien abgeschafft und durch ein „pro-life“-Modell ersetzt werden.

Fazit

Spanien hat die Mitte gewählt. Die klassischen Volksparteien, also Konservative und Sozialdemokraten, kommen zusammen auf fast 65% der Stimmen, das ist im europäischen Vergleich herausragend. VOX und insbesondere die katalanischen Separatisten verlieren stark. Auch die Linkspopulisten mussten Federn lassen. So stark die Polarisierung zwischen den Lagern in Spanien auch ist, es findet eine Rückbesinnung auf die großen Parteien statt, die Spanien seit der Franco-Diktatur in beeindruckender Weise in den Club der progressiven, westlichen Länder geführt haben.

David Henneberger leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Madrid mit Zuständigkeit für Spanien, Italien, Portugal.
Sebastian Camacho ist Praktikant Büro Madrid.