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Südafrika
„Kriminalität wird meist an ganz bestimmten Brennpunkten begangen“

Über die Hintergründe der Gewalteskalation in Südafrika
SA Police

Kapstadt, Südafrika: Demonstranten protestieren gegen Korruption in der Regierung.

© Shutterstock


Der Mord an einem deutschen Touristen in Südafrika im Oktober dieses Jahres löste große Bestürzung in Deutschland aus. Dass Südafrika ein massives Kriminalitätsproblem hat, ist seit Langem bekannt. Im Interview erläutert der Sicherheitsexperte Gareth Newham die Hintergründe der Gewalteskalation.


Herr Newham, vor einigen Wochen gab in der Nähe des populären Krügernationalparks einen Raubüberfall auf deutsche Touristen, von denen einer getötet wurde. Wie ist dieses Verbrechen im Kontext der allgemeinen Kriminalität in Südafrika einzuordnen?

Dieser bedauerliche Überfall war die entsetzliche Ausnahme der Regel, dass Touristen in Südafrika diese Art von Gewalt nur selten erleben. Wir haben ein sehr ernstes Kriminalitätsproblem und ein signifikanter Teil davon ist Gewaltkriminalität. Südafrika ist fast immer unter den „Top Ten“ der Länder mit den höchsten Mordraten. Derzeit liegt sie bei etwa 40 Morden pro 100.000 Einwohner.

Auf dem afrikanischen Kontinent liegt die durchschnittliche Mordrate bei etwa 15 Morden pro 100.000 Einwohnern, weltweit bei ungefähr 6 Morden pro 100.000 Einwohnern. Es ist offensichtlich, dass Südafrika ein spezielles Problem hat.

Sind die Menschen in Südafrika gleichermaßen von Gewaltkriminalität betroffen?

Bei einem Blick auf die geografische Aufteilung der Morde kann man erkennen, dass die Hälfte aller Morde in nur zwölf Prozent unserer Polizeibezirke gemeldet werden. Analysiert man diese fünfzig Bezirke, beispielsweise die Cape Flats in Kapstadt oder Teile der Innenstadt in Johannesburg, findet man drei bis sechs Kriminalitätshotspots pro Bezirk. Es ist also nicht einmal so, dass innerhalb eines Bezirks die Kriminalität gleichmäßig verteilt ist. Sie wird meist an ganz bestimmten Brennpunkten begangen – Orte, in deren näherer Umgebung oft Alkohol verkauft wird und die sich als Durchgangsstraßen für eine schnelle Flucht eignen.

Wer sind die Menschen, von denen die Gewaltkriminalität ausgeht?

Etwa die Hälfte aller Morde sind das Ergebnis zwischenmenschlicher Konflikte unter jungen Männern. In der Regel wurde zuvor Alkohol getrunken, meistens an Freitag- und Samstagabenden. Der Streit entwickelt sich zu einem Konflikt, bei dem eine Waffe eingesetzt wird, oft ein Messer oder ein Stück Glas. Schließlich stirbt eine Person.

Meist handelt es sich um junge Männer in ärmeren Gegenden, die durch hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Vernachlässigung durch den Staat geprägt sind. Oft gibt es in diesen Elendssiedlungen viele Migranten, die dort ein- und ausgehen und keine feste Bindung an einen bestimmten Ort haben. 

Anstieg der Mordrate um 38 Prozent


Und wer sind die Opfer?

Da vor allem Männer mit Männern kämpfen, sind vier von fünf Mordopfern Männer, die meist schwarz und zwischen siebzehn und dreißig Jahre alt sind. Fünf Prozent der Opfer sind weiblich, von denen wiederum etwa 60 Prozent von ihren Intimpartnern, also Ehemännern, Freunden, Ex-Freunden oder Ex-Ehemännern ermordet werden. Etwa fünf Prozent aller Morde werden an Kindern verübt. Häufig sind die Mörder Familienmitglieder oder Menschen aus dem engeren Umfeld der Kinder. Dass Touristen Opfer werden, ist also deutlich unwahrscheinlicher.

Wie hat sich die Kriminalitätsrate historisch entwickelt?

Im Jahr 1993, also ein Jahr bevor Südafrika eine Demokratie wurde, war die Mordrate mit etwas über 70 Morden pro 100.000 Einwohner am höchsten. Von 1994 bis 2012 hat sie sich mehr als halbiert und ist auf 30 Morde pro 100.000 Einwohner gesunken. Seit 2012 haben wir jedoch einen Anstieg der Mordrate um 38 Prozent erlebt.

Worauf ist dieser signifikante Anstieg zurückzuführen?

Das hängt vor allem mit dem Niedergang des Strafrechtssystems zusammen. In den ersten zehn bis fünfzehn Jahren der Demokratie wurde der Personalbestand der Polizei stark aufgestockt und die Ausbildung verbessert. 2006 wurde dann der Polizeipräsident des Landes wegen Korruption verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Stagnation setzte ein. Doch obwohl es keine Verbesserungen gab, galt die Polizei als Behörde und Institution als recht stabil.

In den letzten zehn Jahren wurden Polizeieinsätze jedoch deutlich reduziert – und das, obwohl der Polizeihaushalt in diesem Zeitraum um 67 Prozent gestiegen ist. Die Zahl der Durchsuchungen ist 40 Prozent, die Zahl der festgenommenen Straftäter zwischen 30 und 40 Prozent gesunken. Es wurden 50 Prozent weniger illegale Schusswaffen aus dem Verkehr gezogen. Und die Polizei klärt heute nur noch 15 von 100 gemeldeten Morden auf, was einem Rückgang von 51 Prozent entspricht.

Welche Rolle spielt das „State Capture“ während der Amtszeit von Ex-Präsident Jacob Zuma?

Dass Polizei und Strafjustiz heute geschwächt sind, ist größtenteils die Folge des State Captures (deutsch: „Kaperung des Staates“, Anm. d. Red.). Als Zuma 2009 sein Amt antrat, begann er innerhalb von zwei Monaten mit der Neubesetzung von Schlüsselpositionen. Zum Chef der Kriminalpolizei ernannte er Richard Mdluli, einen entlassenen Polizisten, der inzwischen eine Haftstrafe wegen Gewaltverbrechen abgesessen hat und dem eine Anklage wegen Korruption droht. Zuma dachte, dass solche Menschen das Strafjustizsystem leiten sollten. Er ernannte Leute, die er kontrollieren konnte, weil er wusste, dass sie korrupt oder inkompetent oder beides waren. So sicherte er sich deren Loyalität – sie waren abhängig von ihm.

Die Politisierung der Polizeit ist problematisch


Ist die Situation heute anders?

Das Muster ist seit dem Jahr 2000 ähnlich: Berufsoffiziere, die das Amt des höchsten Polizeibeamten innehatten, blieben in der Regel ein oder anderthalb Jahre im Amt, bevor sie versetzt werden. Dann übernahm ein Zivilist, der dem aktuellen Präsidenten gegenüber loyal ist. Das hat mit Zumas Vorgänger bereits angefangen. Die letzten drei Polizeipräsidenten, inklusive des jetzigen, passen in dieses Schema.

Diese Politisierung war und ist problematisch: Wer kein Polizeibeamter ist und die Grenzen der Polizeiarbeit in einer komplexen Demokratie wie Südafrika nicht versteht, neigt dazu, seinen Job als politisches Werkzeug für die Regierungspartei zu verstehen. Polizeipräsidenten besetzen Schlüsselpositionen so, dass sie die politische Agenda stützen. Kompetente und reformorientierte Beamte werden so permanent von ihren Kollegen untergraben.

Ist die südafrikanische Polizei damit überhaupt vertrauenswürdig?

Es herrscht dort eine Kultur vor, in der man bei Vergehen nichts zu befürchten hat. Nicht alle Polizeibeamten sind korrupt oder brutal – aber diejenigen, die es sind, werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Wenn Sie also ihre Macht missbrauchen, um Bestechungsgelder zu kassieren, Prozessakten verschwinden zu lassen oder mit organisierten Syndikaten zu kooperieren, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Sie entlassen werden. Es gibt viel zu viele Polizisten, die korrupt und brutal sind und mit Kriminellen zusammenarbeiten. Und wenn man als Bürger in Südafrika einem Polizisten auf der Straße begegnet, weiß man nicht, was einen erwartet.

Dem Verbrechen wurde erlaubt, sich zu etablieren


Welche Folgen hat diese Entwicklung?

Die meisten Südafrikaner sehen das Strafverfolgungssystem heute nicht mehr als zentrale Institution für ihre Sicherheit an. Diese Rückschritte der vergangenen Jahre haben es dem organisierten Verbrechen erlaubt, sich zu etablieren – und Fahrzeugentführungen wie im Falle der deutschen Reisegruppe sind ein in hohem Maße organisiertes Verbrechen. Personen, die die Autodiebstähle und oft auch die Morde begehen, gelten als „Freiberufler“. Sie sind mit Netzwerken verbunden, die gestohlene Autos kaufen und damit Handel betreiben. Diese Autos werden oft „bestellt“: Es gibt eine Marke oder ein Modell, das das kriminelle Syndikat stehlen möchte. Sie geben diese Informationen dann an die „Freiberufler“ weiter, die sich mit Schusswaffen bewaffnet auf die Suche nach diesen Autos machen.

Was muss sich ändern, um die Kriminalität in Südafrika bewältigen zu können?

Das System muss grundsätzlich reformiert werden. Die Polizei und der zuständige Minister fragen regelmäßig nach mehr Ressourcen. In der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation heißt es dann: „Wir wissen, dass es ein Kriminalitätsproblem gibt. Also werden wir in den nächsten zwei Jahren 20.000 neue Polizisten einstellen.” Das Problem sind aber nicht die Ressourcen.

Die Polizei in Südafrika verfügt über ein Budget von über 100 Milliarden Rand (ca. 5.5 Milliarden Euro, Anm. d. Red.) und 180.000 Mitarbeiter. Letztes Jahr gab es in Südafrika 24.000 Morde. Es sollte nicht zu schwer sein, mit 180.000 Mitarbeitern und diesem Budget mindestens zehntausend Täter zu identifizieren – doch das geschieht nicht. Die Polizeiführung arbeitet nicht mir klaren Strategien und setzt ihre Ressourcen nicht effektiv ein. Dafür braucht es ein neues Bewusstsein und daran muss gearbeitet werden.


Gareth Newham ist Leiter der Abteilung Governance, Crime and Justice am Institute for Security Studies mit Sitz in Pretoria, Südafrika.

Das Interview führte Barbara Groeblinghoff, Projektleiterin Südafrika und Simbabwe der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Johannesburg.