EN

Türkei
Die Lage der LGBT-Community in der Türkei

Nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023
Schwulen- und Menschenrechtsaktivisten marschieren während der Proteste gegen die Regierung auf der Istiklal-Straße, der Haupteinkaufsmeile in Istanbul

Schwulen- und Menschenrechtsaktivisten marschieren während der Proteste gegen die Regierung in Istanbul.

© picture alliance / abaca | ABACA

Im Wahlkampf der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei war der Druck auf die LGBT-Community kräftig angestiegen. Das Regierungslager nutzte das Thema „Gender“ aktiv, um die Unterstützung konservativer Wähler zu gewinnen und den politischen Gegner zu diffamieren. Aber auch nach den Wahlen lässt die öffentliche Dämonisierung von Menschen aus der LGBT-Community nicht nach. Das schürt nicht nur die Besorgnis um ihre Rechte, sondern auch um ihre persönliche Sicherheit.

Abbau von Rechten und Akzeptanz der LGBT-Community in der Ära Erdoğan

LGBT-feindliche Politik war lange keine Konstante der Regierungszeit von Recep Tayyip Erdoğan. Wenn es auch niemals aktive Maßnahmen oder Gesetzesinitiativen zum Schutz und für die Gleichstellung von LGBT gab, so verfolgte seine Partei, die  AKP, in den 2000er Jahren und im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittswunsch doch eine allgemein menschenrechtsorientierte Reformpolitik. LGBT-Aktivisten trafen sich bisweilen mit Regierungsvertretern, gelegentlich sah man sogar Regenbogenfahnen auf AKP-Veranstaltungen. Homosexualität ist zudem bereits seit 1858 in den Türkei legal. Noch 2002 sagte Erdoğan im damaligen Wahlkampf, eine schlechte Behandlung von Schwulen sei unmenschlich und der Schutz ihrer Rechte in der Türkei sei ein Muss. Gleichzeitig wurde die LGBT-Szene in dieser Zeit sichtbarer und forderte zunehmend ihre Rechte ein. So gab es 2003 den ersten Pride-Parade in Istanbul. Pride-Veranstaltungen fanden jahrelang in etlichen Städten ungehindert statt, mit einer Rekordteilnehmerzahl von 100.000 im Jahr 2014 in Istanbul.

Etwa ab 2010 wendete sich die Regierung jedoch gegen die Bewegung. Es kam zu verbalen Attacken von Politikern in regierungsnahen Medien und in den sozialen Medien. Seit 2015 werden Pride-Veranstaltungen zunehmend verboten, dennoch stattfindende Demonstrationen werden mit Polizeigewalt aufgelöst, und es kommt zu Strafverfolgungen von Aktivisten. Auch der Ausstieg der Türkei aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (die so genannte Istanbul-Konvention) 2021 gehört in diesen Kontext: Der Schritt wurde aufgrund des Drucks konservativer Gruppen getan, denen zufolge, diese Konvention u.a. Homosexualität fördere.

In den letzten zwei Jahren entstand darüber hinaus eine Art Anti-LGBT-Bewegung. Ihre Demonstrationen werden im Gegensatz zu denen der LGBT-Bewegung nicht verboten. Aus Furcht, dass westliche Staaten die türkische Jugend zur Homosexualität verführen wollen, um die türkische Gesellschaft zu zersetzen, wird auch ungehindert ein Verbot von , wie es heißt, „LGBT-Propaganda“ gefordert. Unter dem Dach der Organisation „Große Familienplattform“ (Büyük Aile Platformu) veranstalten diverse Organisationen in verschiedenen Städten allein 2022 15 Demonstrationen. Sie stilisierten sexuelle Orientierung oder Gender-Identität zur Bedrohung von Gesellschaft, Nation und Staat. So hieß es etwa im Herbst 2022 auf einem Banner einer Istanbuler Anti-LGBT-Demonstration: „Der Schutz der Familie ist eine Frage der nationalen Sicherheit“.

LGBT als Wahlkampfthema

Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2023 wurde das Thema LGBT vom Regierungslager aktiv zur Mobilisierung konservativer Wählerschichten genutzt. So bezeichneten Erdoğan und sein Innenminister Süleyman Soylu queere Menschen immer wieder als „pervers“, ja selbst als „Terroristen“. Der Präsident griff das Thema auf seinen Kundgebungen regelmäßig auf und stellte Homosexuelle als Bedrohung der traditionellen Familie dar. Über sein Wahlbündnis, die Republikanische Allianz, sagte er: „Die Allianz wird niemals pro-LGBT sein, weil die Familie uns heilig ist“. Über die Opposition meinte er: „Wir werden die Kräfte, die pro-LGBT sind, in der Wahlurne beerdigen“. Immer wieder beschuldigte er die Vertreter der Oppositionsparteien, sich für die LGBT-Community einzusetzen, und rief junge Leute auf, sich von solchen Kräften fernzuhalten. Besonders schrill traten im Wahlkampf die Stimmen zweier Kleinstparteien hervor, die Erdoğan in sein Wahlbündnis integrierte. Die erste dieser Parteien ist die kurdisch-islamistische Hüda Par.

Sie wird von der Opposition beschuldigt, der ehemaligen türkisch-kurdischen Hisbollah nahezustehen, eine Terrororganisation, die nach zahlreichen politischen Morden Ende der 1990er Jahre verboten wurde. Die Hüda Par fordert, den Schutz der „traditionellen“ Familie vor „abweichenden“ Ideologien durchzusetzen, Mädchen und Jungen getrennt zu unterrichten und Frauen Arbeitsbedingungen anzubieten, die „ihrer Natur entsprechen“. Bei der zweiten Partei handelt es sich um die Neue Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi, YRP), die sich u.a. dem Kampf gegen die „Perversität“ und den „unbegrenzten Unterhalt“ für geschiedene Frauen auf die Fahnen geschrieben hat.

Die Oppositionsparteien griffen das Thema dagegen kaum auf. Die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) machte verschiedentlich Vorschläge zum Minderheitenschutz allgemein und verfolgte generell einen Kurs, der auf eine Rückkehr zu demokratischen Standards hoffen ließ. Konkrete Aussagen zugunsten von LGBT-Rechten suchte man jedoch auch in ihrem Wahlkampf vergeblich.

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Inhalt ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Verschärfung des Tons nach den Wahlen

Hoffnungen, die LGBT-Feindlichkeit würde nach ihrer Instrumentalisierung im Wahlkampf wieder abflauen, haben sich jedoch nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil hat sich der Ton in der Politik und in den regierungsnahen Medien weiter verschärft. So ist in großen und einflussreichen Medien inzwischen von einem „LGBT-Terror“ die Rede. Die Abgeordnete Ceyda Bölünmez der Regierungspartei AKP aus Izmir wird von der eher linken Zeitung Solcu Gazete mit der Aussage zitiert: “LGBT und seine Erweiterungen sind kein Kampf um Identität. Es handelt sich um eine klinisch diagnostizierte Störung. Eine Behandlung ist auch hormonell möglich.”

Im Juli 2023 wurden Streaming-Plattformen wie Netflix, Amazon Prime, Mubi, Disney+ und Blu TV von der Medienaufsichtsbehörde RTÜK (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu) wegen „unsittlicher“ Sendungen mit Strafen belegt. In der Begründung einer Sanktion gegen Netflix wird die Grundhaltung der Behörde zu diesem Thema deutlich: "Der Film widerspricht dem Prinzip, die Familie zu schützen. Er zeigt ein durch keine Norm geregeltes Geschlechtsleben und unbegrenzte sexuelle Beziehungen, er konstruiert eine auf der Sexualität sich gründende alternative Welt, er sucht die [auf der ganzen Welt gültige] universelle Form der Familie zu verändern, er zeigt obszöne Szenen in allen Details und präsentiert es als normal und richtig." RTÜK ist seit Inkrafttreten eines neuen Mediengesetzes, dem sog. Desinformationsgesetz, im Herbst 2022 auch für die Regulierung der nationalen wie internationalen Streamingdienste zuständig, die für ihr Angebot in der Türkeibei der Behörde eine Lizenz beantragen müssen.

Darüber hinaus wurden die massiven Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit besonders im Pride-Monat Juni 2023 deutlich, in dem traditionell an die Stonewall-Aufstände in New York im Juni 1969 erinnert wird, die sich nach einer gewaltsamen Polizeiaktion in einer Schwulenbar entzündeten. Fast alle LGBT-bezogenen Veranstaltungen wurden in diesem Jahr verboten. Das Zeigen der Regenbogenfahne wird zunehmend unmöglich. Die Durchführung der Pride-Parade im säkularen Zentrum Istanbuls, wo auch die Gezi-Proteste stattgefunden hatten, wurde durch massives ganztägiges Polizeiaufgebot verhindert. Dennoch versammelten sich mehrere hundert Menschen im benachbarten Stadtteil Şişli. Doch hier wie auch auf der Pride-Parade in Izmir kam es zu etlichen Festnahmen. Anti-LGBT-Aktivisten agieren dagegen ohne Einschränkungen. So wurde zum Beispiel ein von der Anwaltskammer Izmir veranstaltetes Frühstück im Rahmen der Pride-Woche von Anhängern der nationalistischen Vaterlandspartei (VP), der Jugendunion der Türkei (TGB), der Grauen Wölfe, des Republikanischen Frauenverbands und der AKP-Jugend attackiert, ohne dass die Polizei einschritt.

Die verschärfte Stimmung bekommen auch Kulturveranstalter und Künstler zu spüren. Im Juni 2023 wurde in Istanbul eine Vorführung des Films „Pride“ aufgelöst, der von der Solidarität zwischen homosexuellen Aktivisten und streikenden Bergarbeitern in England 1980 erzählt. Etliche Besucher wurden festgenommen. Die Begründung des Verbots durch den Bezirksgouverneur: Die Vorführung verstoße gegen nationale und moralische Werte und könne den öffentlichen Frieden gefährden. Der Vorgang ist insofern besorgniserregend, als hier eine Veranstaltung in geschlossenen Räumen wie eine politische Demonstration eingestuft und behandelt wurde. Ebenfalls im Juni wurden die Konzerte von Melike Şahin und Mabel Matiz in westanatolischen Denizli von der dortigen AKP-geführten Stadtverwaltung abgesagt, nachdem sie Solidarität mit der LGBT-Community gezeigt hatten und dafür von regierungsnahen Medien angegriffen worden waren.

Doch auch Widerstand ist sichtbar. Zahlreiche LGBT-Organisationen sind weiter aktiv und führten Aktionen zum Pride-Monat durch.Auf der Graduierungszeremonie der medizinischen Fakultät der Istanbul University lasen die Studierenden in kollektivem Protest den vollen Text des Mediziner-Eids, obwohl der Bezug auf „sexuelle Orientierung“ von der Universitätsleitung gestrichen worden war.

Schwierige Aussichten

Mit Blick auf die dritte Amtszeit Präsident Erdoğans erwarten LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten eine weitere Einschränkung ihrer Rechte und Freiheiten. Mahmut Şeren von der Social Policy, Gender Identity and Sexual Orientation Studies Association (SPoD) befürchtet, dass durch Änderung von Gesetzen oder der Verfassung die Aktivitäten von LGBT-Organisationen kriminalisiert werden könnten. Regierungsnahe Medien diskutierten bereits das so genannte Propagandagesetz in Russland, das öffentliche Information zu Fragen von Homosexualität oder Geschlechtsidentität unter Strafe stellt. Auch die körperliche Unversehrtheit von Aktivisten sei zunehmend gefährdet. Reyda Ergün, bis Ende 2022 am Research Center for Gender and Women’s Studies an der Kadir Has University in Istanbul tätig, befürchtet eine weitere Einschränkung der akademischen Freiheit, wenn es um Genderfragen geht.

Die Selbstzensur werde zunehmen und die Zusammenarbeit von Akademikern mit zivilgesellschaftlichen Organisationen mit diesem Themenschwerpunkt mit höheren Risiken verbunden sein. Auch das persönliche Leben dürfte durch die Verbreitung von Hassrede in vielerlei Hinsicht betroffen sein – sei es durch Nachteile in Beruf und Studium, die immer geringere Sichtbarkeit von LGBT in der Kulturproduktion oder schlicht ihre persönliche Sicherheit.

Juristische Konsequenzen kann die LGBT-feindliche Politik in einer Verfassungsänderung finden, von der die AKP bereits 2022 das erste Mal gesprochen hat und die im Herbst 2023 in die Wege geleitet werden soll. Artikel 41 der Verfassung „Schutz der Familie und Kinderrechte” soll um die Definition der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau ergänzt werden. Wenngleich dies ein symbolischer Akt ohne direkte praktische Auswirkungen wäre, befürchten LGBT-Organisationen, dass das Prinzip der Gleichbehandlung vor dem Gesetz unterminiert und Menschenrechtsverletzungen Tür und Tor geöffnet würde.

Die zunehmend LGBT-feindliche Politik der AKP und ihrer politischen Partner dient einerseits der Festigung ihrer Wählerbasis und nutzt dazu das emotional aufgeladene Thema Familie. Diese Politik ist aber auch Ausdruck der Überzeugung, dass es notwendig sei, konservative Werte in der Gesellschaft zu stärken. Es steht zu befürchten, dass es bei der Verteidigung der „moralischen Werte“ irgendwann nicht mehr nur um LGBT-Rechte geht, sondern auch die Rechte von Frauen zunehmend in Frage gestellt werden.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 17.10.2023 bei der Bundeszentrale für politische Bildung.