Türkei-Wahlen
Ernüchterung in der Türkei
Die Stimmung war beinahe festlich am sonnigen 14. Mai in Istanbul, als schon am frühen Morgen die Menschen zu den Wahllokalen strömten. Vor vielen Schulen bildeten sich längere Schlangen. In Stadtteilen, die der Opposition zuneigen, lag Wechselstimmung in der Luft. Der vorsichtige Optimismus der letzten Monate in großen Teilen der Zivilgesellschaft hatte zuletzt dem fast euphorischen Gefühl Platz gemacht, ein Wechsel im Präsidentenamt, ein Wandel zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sei wirklich in Reichweite. Dazu hatte sicher der geeinte Wahlkampf der Opposition aus sechs Parteien beigetragen, die gut besuchten Kundgebungen, die positiven Botschaften, die zum Herz zusammengelegten Hände (gleich dem Markenzeichen von Svitlana Tsikhanouskaya und ihren Mitstreiterinnen nach der gestohlenen Wahl in Belarus 2020), die Abwesenheit von Hass und Diffamierung des Gegners, auch die gelungene Social-Media-Kampagne. Und auch die Umfrageinstitute trugen einen guten Teil zu der Wahrnehmung bei, der verbreitete Aufruf „#ilkturdabiterelim“ (Lasst es uns in der ersten Runde beenden), ließe sich in die Tat umsetzen. Dass Umfragen in der Türkei mit Vorsicht zu genießen sind, war zwar bekannt, aber doch dienten sie notgedrungen als Anhaltspunkte.
Ernüchterung in der Wahlnacht
Eine sehr lange und nervenaufreibende Wahlnacht brachte die Ernüchterung. Während der Wahltag selbst weitgehend störungsfrei verlaufen war – zwar gab es zahlreiche Meldungen von Unregelmäßigkeiten, jedoch wohl keine in großem Stil – zog sich der Auszählungsprozess über viele Stunden hin und ist auch gegen Montagmittag noch nicht vollständig abgeschlossen. Vertreter der Oppositionsparteien und freiwillige Wahlbeobachter berichteten, dass die AKP-Mitglieder in den lokalen Wahlräten vielfach Einspruch gegen die Zählprotokolle einlegten, und zwar genau dort, wo die Opposition offensichtlich vorne lag. Es kam bis zu elfmaligen Auszählungen in einzelnen Wahllokalen, und der Eindruck eines absichtlichen Verzögerns drängte sich auf. Die Botschaft der Opposition – während der Nacht traten mehrfach die Bürgermeister Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş und einmal Kemal Kiliçdaroğlu mit allen Parteiführern seiner Allianz vors Mikrofon – lautete daher: Macht euch keine Sorgen, es ist noch nicht alles ausgezählt, und die noch angefochtenen Protokolle schlagen für uns zu Buche.
Doch irgendwann nach Mitternacht wurde klar, dass sich der etwa fünfprozentige Abstand zwischen Erdoğan und Kiliçdaroğlu weder verkleinern noch umkehren würde. Der Amtsinhaber steht nach abgeschlossener Auszählung bei 49,49 Prozent, der CHP-Vorsitzende bei 44,79 Prozent. Der dritte Kandidat, der rechtsnationale Sinan Oğan, erreichte überraschende 5,29 Prozent. Auf Muharrem Ince, der seine Kandidatur nur wenige Tage vor der Wahl zurückgezogen hatte, aber dennoch auf den bereits gedruckten Wahlzetteln stand, entfielen immerhin noch 0,43 Prozent.
Sieger und Verlierer der Wahl
Das Ergebnis ist eine herbe Enttäuschung für den Teil der Gesellschaft, der für eine bessere Politik, mehr Freiheit und Demokratie gestimmt hat. Dabei ist eigentlich genau dieser Teil relativer Sieger der Wahl, gemeinsam mit einer Opposition, die es schaffte, über ein sehr großes politisches Spektrum hinweg gemeinsam Wahlkampf zu machen. Unter den extrem unfairen Bedingungen dieses Wahlkampfs und den autoritären Rahmenbedingungen ist das Ergebnis für Kiliçdaroğlu mehr als beachtlich. Aber es reicht eben nicht zum Regieren. Präsident Erdoğan und seine AKP sind – wiederum relativ – keine strahlenden Sieger. Denn noch nie war es für Erdoğan so knapp, noch nie musste er sich einer Stichwahl stellen. Gewinner ist am Ende der Nationalismus, der sich in einer Zunahme der Stimmen für die MHP, aber auch für den dritten Präsidentschaftskandidaten Sinan Oğan ausgedrückt hat. Und der eigentliche Verlierer ist die gesamte Bevölkerung der Türkei, die nun langfristig unter den Defiziten des Rechtsstaats und den Folgen einer verfehlten Wirtschaftspolitik leiden wird.
Mögliche Gründe für das Wahlergebnis
Die nächsten Tage werden bei Oppositionsparteien wie Beobachtern der Analyse dienen, was zu diesem Ergebnis beigetragen hat. Einen großen Anteil dürften die sehr unfairen medialen Rahmenbedingungen haben. Etwa 90 Prozent der Medien sind regierungstreu, und längst nicht alle Menschen nutzen Twitter oder suchen auf Youtube nach unabhängigem Journalismus, auch wenn es diesen durchaus noch gibt. Große Segmente der Bevölkerung sind schlicht nur der Weltsicht der regierenden Allianz ausgesetzt, zu der auch die im Wahlkampf geschürte Angst vor Instabilität und Terrorismus oder vor Angriffen auf ihre muslimische Identität gehört. Ein weiterer Grund sind sicher die zahlreichen Wahlgeschenke, die Präsident Erdoğan in den letzten Monaten verteilt hat – erhöhter Mindestlohn, bessere Gehälter im öffentlichen Dienst und Frührente kamen Millionen Menschen spürbar zugute. Die Menschen sind dankbar für solche Erleichterungen und zeigen das an der Wahlurne. Auch Kiliçdaroğlu hat zwar im Wahlprogramm soziale Verbesserungen versprochen, aber im Gegensatz zu ihm konnte der Präsident dank seines Amtes bereits liefern. Schließlich ist nicht zu unterschätzen, dass der Präsident eine feste Wählerbasis von ca. 30 Prozent hat, für die er schlicht zur politischen Identität gehört, die ihn lieben und unter allen Umständen für ihn abstimmen würden.
Die Stichwahl am 28. Mai dürfte den Sieg Erdoğans bestätigen. Denn ein geschlossenes Umschwenken der Oğan-Wähler zu Kiliçdaroğlu ist quasi ausgeschlossen. Schwer vorstellbar ist auch, dass sich noch zusätzliche Wähler mobilisieren lassen, nachdem die Wahlbeteiligung mit 88,84 Prozent bereits beeindruckend hoch war. Viele Menschen aus den Erdbebengebieten, die sich zum Wahltag in ihre Heimatorte aufgemacht haben, dürften bei den zweifelhaften Erfolgsaussichten schon aus Kostengründen von einer zweiten Reise absehen. Vorerst sieht es daher nicht gut aus für einen politischen Wandel in der Türkei.