Türkei
Treibkraft des gesellschaftlichen Wandels: Frauenbewegung in der Türkei
Burcu Karakaş
Unter dem wachsenden politischen Druck auf alle Lebensbereiche in diesem Land bin ich zuallererst eine Frau, erst dann kommt meine berufliche Identität als Journalistin. Ich bin eine feministische Journalistin. Ich betrachte die Welt und den Journalismus aus einer feministischen Perspektive. In einem Land, in dem täglich mindestens eine Frau ermordet wird, Frauenrechte mit Füßen getreten werden, kann ich es mir auch nicht anders vorstellen. Dass wir in diesen trüben Zeiten trotz alledem die Hoffnung nicht verlieren, hat einen berechtigten Grund: Der organisierte Widerstand von Frauen, die den Vorhang zur Seite ziehen und das Licht hereinlassen – in das Land, das unser Zuhause ist.
Es ist kein Zufall, dass die zunehmend autoritäre Herrschaftspraxis der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Frauen und LGBTI+ am härtesten trifft. Genauso wie es kein Zufall war, was der damalige Premierminister und heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Jahre 2011 anlässlich der Errichtung eines Ministeriums für Familien- und Sozialpolitik – welches das Ministerium für Frauenangelegenheiten ersetzen sollte – von sich gab: „Wir sind eine konservative demokratische Partei. Die Familie ist sehr wichtig für uns. Angriffe auf die erkämpften Errungenschaften der Frauenbewegung sowie die Hervorhebung der Familie als wichtige gesellschaftliche Institution sind Wesensmerkmale autoritärer Herrschaften. Diese Tendenz ist auch in der Türkei festzustellen. Doch wo Angriff ist, ist auch Widerstand. Die Türkei ist seit zehn Jahren Schauplatz eines eindrucksvoll organisierten Widerstands gegen systematische Angriffe auf Frauenrechte. Was kann mehr Hoffnung machen als dieser organisierte Widerstand von Frauen?
Wie Präsident Erdoğan wiederholt zum Ausdruck bringt, bildet die Familie das Herz der AKP-Herrschaft. Dementsprechend gestalten sich auch die Regierungspolitiken. Familienorientierte Politik definiert Frauen über ihre Stellung innerhalb der Familie. Frauen über die Familie zu definieren bedeutet wiederum, ihnen die Individualität abzusprechen. Heutzutage wird selbst das äußerst brisante Thema „Gewalt gegen Frauen“ lediglich im Zusammenhang mit dem Erhalt der Familie verhandelt. Für die politische Macht stellt es kein Problem dar, Frauen zugunsten des Zusammenhalts der Familie zu opfern. Für Aufrechterhaltung und Kontinuität der politischen Stabilität wird der Familie eine enorme Bedeutung beigemessen. Immer häufiger werden der Zerfall der Familie als gesellschaftlicher Zerfall sowie die Existenz der LGBTI +-Personen als gesellschaftliche Bedrohung dargestellt. Äußerungen wie "Wer keine Familie gründet, gehört nicht zu uns" oder "Wer sich scheiden lässt, ist Landesverräter" werden langsam aber sicher salonfähig.
Für fromme und konservative Teile der Gesellschaft ist die strikte Teilung der Geschlechterrollen selbstverständlich. Nach diesem Modell ist der Vater das Familienoberhaupt, während die Mutter für Kinder und Haushalt zuständig ist. Eine familienzentrierte Politik sperrt somit Frauen im „Heim“ ein. Man erwartet von ihnen, die traditionell zugeschriebene Rolle zu akzeptieren, über die erlittene häusliche Gewalt zu schweigen, im Falle eines unvermeidbaren Aufenthalts im Frauenhaus (in AKP-Jargon: Gästehaus) nach einer Zeit zur Familie zurückzukehren und den gewalttätigen Ehemann nicht anzuzeigen. Diese Erwartungshaltung spiegelt sich auch in den „Ratschlägen“ der vom staatlichen Rat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) errichteten Familien- und Religionsberatungsstellen. Im Zuge einer Recherche rief ich bei einer dieser Beratungsstellen an und gab mich als eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau, die Rat sucht. Mir wurde unter anderem geraten, meinem Mann keine Vorwürfe zu machen und zu versuchen, den Konflikt ohne polizeiliche Intervention zu lösen. Die häusliche Gewalt würde aufhören, wenn wir nach den Regeln des Islams leben würden. Mit solchen und ähnlichen Ratschlägen wird Frauen suggeriert, von einer Scheidung abzusehen. Türkeiweit existieren 407 solche Familien und Religionsberatungsstellen, weitere sind in Planung. Die Befugnisse des Rats für religiöse Angelegenheiten wurden unter der AKP-Regierung erweitert. Die Einrichtung bemüht sich nicht nur um Vermeidung von Scheidungen, sondern organisiert auch Eheseminare für junge Menschen, um sie zur Heirat zu ermutigen.
Auch Strafverfolgungsbehörden und die Justiz lassen von häuslicher Gewalt betroffene Frauen im Stich. Trotz des Gesetzes zum Schutz der Familie und Verhinderung häuslicher Gewalt gegen Frauen (Zahl 6284) kommt es vor, dass in der Polizeiwache schutzsuchende Frauen in die eheliche Wohnung zurückgeschickt werden. Von dieser katastrophalen Situation zeugt auch folgende Aussage einer Anwältin: „Stellen Sie sich eine Frau vor, die sich aus Angst um ihr Leben an den Staat wendet. Trotz eindeutigen gesetzlichen Bestimmungen wird ihr geraten, sich mit ihrem Ehemann zu versöhnen.“ In der Tat gehen die Strafverfolgungsbehörden ihrer Pflicht nicht nach. Man könne doch nicht jeder einzelnen Frau einen Polizeibeamten beiseitestellen, heißt es oft. Obwohl per Gesetz vorgeschrieben, werden Frauen vor tödlicher Gewalt nicht geschützt. Bemühungen um eine Aussöhnung in der Polizeiwache sind keine Seltenheit. Letztlich kann es durchaus vorkommen, dass eine Frau, die um ihr Leben bangt, im Stich gelassen wird.
Trotz erheblicher Mängel an polizeilichen Interventionen und dem Heiratspropaganda des Diyanet sowie Aufrufe Erdoğans für mindestens drei Kinder pro Familie und seinen Äußerungen gegen Abtreibung – trotz alledem sind Frauen entschlossen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ihr Kampf gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist das aktuellste Beispiel dafür.
Die Türkei war einer der ersten Unterzeichner des „Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt”, auch bekannt als „Istanbul-Konvention“. Die am 1. August 2014 in Kraft getretene Konvention wurde jedoch in den vergangenen sechs Jahren kaum umgesetzt. Die Istanbul-Konvention schafft für die unterzeichnenden Parteien verbindliche Rechtsnormen, die zur Abschaffung geschlechterspezifischer Gewalt führen sollen. Seit geraumer Zeit läuft jedoch in regierungsnahen Medien und in frommen Kreisen eine leidenschaftliche Diskussion um die angebliche Gefährdung „der Einheit der Familie“ durch die Konvention. Gegner dieser völkerrechtlich bindenden juristischen Vereinbarung behaupten, sie habe zum Anstieg von Scheidungen geführt. Hinter dieser unbegründeten Behauptung steckt jedoch der Unmut über das Beharren der Frauen auf ihr Selbstbestimmungsrecht, das selbstverständlich auch mehr Scheidungen zur Folge hat. Immer mehr Frauen, die häusliche Gewalt erleben, wagen die Scheidung, anstatt die Gewalt zu dulden. Auch die Verbesserung ihrer sozioökonomischen Verhältnisse ist der AKP-Regierung und den Befürwortern des Patriarchats ein Dorn im Auge. Die Angriffe auf die Istanbul-Konvention – auf dieses rechtlich verbindliche Instrument zur umfassenden Bekämpfung aller Formen von Gewalt an Frauen – reflektieren eine Geisteshaltung gegen die Gleichstellung der Geschlechter. Es ist dieselbe Geisteshaltung, die Kinderehen befürwortet, sich gegen Schwangerschaftsabbruch auch im Falle einer Vergewaltigung stellt, Alkoholkonsum von Frauen verpönt, getrennte Schulbildung befürwortet, Frauen tagtäglich mit dem Vorwand der „Ehre“ gedemütigt und bestraft. Unter diesen Rahmenbedingungen kämpfen Frauen um die Beibehaltung ihrer Errungenschaften.
In diesem Zusammenhang sollten vielmehr die Auswirkungen der Nichtumsetzung der Istanbul-Konvention diskutiert werden anstatt des Austritts aus derselben. Was gehört noch laut diskutiert? Etwa die geringe Zahl an Frauenhäusern trotz massiven Anstiegs der Männergewalt; das Fehlen von Projekten zur Ermächtigung von Frauen; das fehlende Angebot an – ebenso in der Istanbul-Konvention vorgeschriebenen – geschlechterspezifischen Ausbildung für Richter und Staatsanwälte oder die Nichtvollstreckung der Gewaltschutzgesetzes (Zahl 6284). Alles Themen, die nicht oft genug zu Wort gebracht werden können. Der Artikel 25 der Istanbul-Konvention sieht im Zusammenhang mit dem Kampf gegen sexuelle Gewalt die Einrichtung von Krisenzentren für Vergewaltigungsopfer vor. Trotz massiv steigender sexueller Gewalt in der Türkei wurden seit der Unterzeichnung der Konvention keine diesbezüglichen Schritte unternommen.
Das Motto der Istanbul-Konvention lautet: „Istanbul-Konvention rettet Leben!“. Genaugenommen zielen die meisten türkischen Gesetze ebenso auf den Schutz von Frauen ab. Das eigentliche Problem liegt nicht im Fehlen von Gesetzen, sondern in deren Nicht-Vollstreckung. „Wenn die Konvention Leben rettet, warum dauert dann die männliche Gewalt an?“ bekommt man oft zu hören. Die Antwort ist ganz simpel: weil die Gesetze nicht vollstreckt werden. Was fehlt, ist der politische Wille, die vorhandenen Gesetze zu vollstrecken.
Dasselbe gilt auch im Zusammenhang mit dem Recht auf Abtreibung. In der Türkei ist Abtreibung gesetzlich geregelt, also legal. Die ablehnende Haltung Präsident Erdoğans zum Schwangerschaftsabbruch hat jedoch ein De-facto-Verbot desselben zur Folge. Heute wird in fast keinem staatlichen Krankenhaus Abtreibung praktiziert. Das gilt auch für die Istanbul-Konvention: Die politische Herrschaft, die der Familie absoluten Vorrang einräumt und sich nur ungern mit der Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt, ignoriert die Konvention. An dieser Stelle muss unterstrichen werden: Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention ist ein weiterer Beweis für den mangelnden politischen Willen. Der Austritt bedeutet auch, über Umwege zu sagen: „Das Sterben von Frauen ist uns egal!“ Die türkische Regierung unterstützt die Gewalt gegen Frauen, indem sie die gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter ablehnt. Strafmilderungen bei Frauenmorden sowie das Fehlen von vorbeugenden Strafen ermutigen die Täter. Ohne den politischen Willen kann keine lösungsorientierte Politik gegen Gewalt an Frauen entwickelt werden, was ein Desaster für Frauen bedeutet.
Die politischen Entwicklungen seit den Gezi-Protesten im Jahre 2013 haben sich auf die Protestbewegungen negativ ausgewirkt. Von der polizeilichen Gewalt in Gezi über die Selbstmordattentate bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen in kurdischen Gebieten und nicht zuletzt der Putschversuch im Jahr 2016 führten dazu, dass sich politische Bewegungen von der Straße fernhielten. Nur die Frauenbewegung, die in dieser schwierigen Zeit das Recht auf Leben und die rechtlichen Errungenschaften verteidigt, verließ die Straßen nicht. Frauen gingen nicht nur am 8. März, sondern bei jedem Angriff der Regierung auf Frauenrechte auf die Straßen. Sie hielten Transparente und Plakate hoch, skandierten Parolen und riefen zum Widerstand auf. Und sie tun dies heute noch. Sie brüllten und brüllen „Das Private ist politisch!“, „Frauenmorde sind politisch!“, „Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist politisch!“ Ihre Stimmen hörte und hört man nicht nur in Ankara, sondern auf der ganzen Welt.
In diesem Zusammenhang müssen wir unbedingt auch die Rolle der Sozialen Medien erwähnen. Die Frauenbewegung als die bestorganisierte politische Bewegung des Landes wird nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Sozialen Medien immer lauter. Die weltweit registrierte Kampagne #challangeaccepted, bei der Frauen Schwarz-Weiß-Fotos von sich posteten, war einer der erfolgreichsten Netzaktionen, doch das war nicht alles. Feministinnen der neueren Generation, insbesondere Studentinnen, erheben im Netz ihre Stimme und fordern Gerechtigkeit für ihre ermordeten oder tot aufgefundenen Altersgenossinnen. Eingestellte Verfahren gegen diese als „Selbstmord“ verschleierten Morde werden durch die effektive Nutzung der Sozialen Medien durch junge Frauen wiederaufgenommen.
Auch wenn uns diese Fälle die erbärmliche Lage der Justiz vor Augen führen, machen sie gleichzeitig Hoffnung angesichts des vorbildlichen Kampfes der jungen Generation um Frauenrechte und darüber hinaus um einen gesellschaftlichen Wandel. Die jungen Frauen kommen mit lauten Schritten. Mit ihnen wächst das feministische Bewusstsein – nicht nur unter Frauen, sondern in der ganzen Gesellschaft. Das Streben, diese Entwicklung zurückzudrehen, wird erfolglos bleiben. Die Frauenbewegung der Türkei ist entschlossen, trotz aller Hindernisse als Vorkämpferin des politischen und gesellschaftlichen Wandels weiterzumachen.