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Türkei
Zivilgesellschaft unter Druck

Zivilgesellschaft Türkei

Die bereits auf den Wahlkampf 2023 ausgerichtete politische Stimmung in der Türkei lässt vermuten, dass die Luft für zivilgesellschaftliche Arbeit in den nächsten Monaten dünner wird

©   Getty Images Burak Kara / Freier Fotograf

So sehr sich die Türkei in den vergangenen Jahren verändert hat, so aktiv und engagiert ist nach wie vor die Szene ihrer zivilgesellschaftlichen Organisationen. Zahlreiche Menschen setzen sich in so genannten NGOs (engl. für Nichtregierungsorganisationen) für eine offene und freie Gesellschaft, die Gleichberechtigung von Frauen, Minderheitenrechte, Umweltschutz und viele andere Themen ein. Dieser Einsatz und die Zusammenarbeit vieler Organisationen mit internationalen Partnern ist, wenig überraschend, dem immer autoritärer werdenden Staat ein Dorn im Auge. Auch wenn die NGOs im Allgemeinen noch relativ ungestört arbeiten, wächst daher der Druck, und er kommt im Gewand legitimer Anliegen und ordentlicher Gesetze daher.

Einen Einschnitt bedeutete in dieser Hinsicht das Gesetz Nr. 7262 zu „Bekämpfung der Finanzierung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen” vom Dezember 2020. Wenngleich der Name des Gesetzes kaum einen Zusammenhang zu zivilgesellschaftlicher Arbeit nahelegt, warnten viele NGOs bereits bei seiner Verabschiedung, dass es die Tür für eine zunehmende Gängelung ihres Sektors öffnen würde. 694 Nichtregierungsorganisationen aus verschiedensten Bereichen unterzeichneten damals erfolglos eine Petition gegen seine Ratifizierung.

Offiziell war das Gesetz geschaffen worden, um konkreten Empfehlungen der Financial Action Task Force (FATF) nachzukommen, einer internationalen Organisation zum Monitoring von Geldwäsche und Terrorfinanzierung, in der die Türkei Mitglied ist. Das Gesetz ermöglicht es dem Staat, im Falle von Terroranklagen gegen NGO-Vertreter deren Vermögenswerte zu beschlagnahmen und ihre Leitung durch staatliche Treuhänder zu ersetzen. Wenngleich bisher kein Fall bekannt ist, wo diese Karte gezogen wurde, sondern lediglich die Anzahl behördlicher Kontrollen gestiegen ist, bietet das Gesetz Anlass zu Sorge. Anklagen wegen angeblicher Terrorunterstützung sind immerhin zu einem breit angewandten Mittel gegen Journalisten, kritische Blogger oder andere Kritiker der Regierung geworden.

Die Einschätzung, dass es sich beim Gesetz Nr. 7262 in erster Linie um eine Maßnahme zur Einschränkung der Zivilgesellschaft handelt, teilt auch die FATF. Sie setzte die Türkei 2021 auf eine „graue Liste“ und ermahnte sie, legitim arbeitende zivilgesellschaftliche Organisationen nicht unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorfinanzierung unverhältnismäßig zu beschränken. 

Inzwischen wurde das Gesetz um einen Artikel zur Risikoanalyse in Organisationen erweitert und seine praktische Anwendung nimmt Gestalt an. Seit März 2022 erhielten etliche NGOs Briefe vom „Generaldirektorat für die Beziehungen mit der Zivilgesellschaft“, die sie zu zusätzlichen Maßnahmen der Selbstkontrolle aufforderten. Die Briefe gingen an Organisationen, denen nach unbekannten Kriterien ein “mittleres” oder “hohes Risiko” zugeschrieben wird. De facto sind dies vor allem Menschenrechtsorganisationen. Sie werden gedrängt, innerhalb einer vorgegebenen Frist “notwendige” Untersuchungen zu ihren Finanzierungsquellen, ihren Mitarbeitern und ihren institutionellen Partnern durchzuführen, um ihren “Risikostatus” festzustellen.

Wie dies konkret umgesetzt werden soll, bleibt allerdings im Dunkeln. NGOs, denen anschließend ein „hohes Risiko“ bescheinigt wird, müssen mit staatlichen Inspektionen rechnen. 

In der Praxis bedeutet dies zunächst, dass zu den bereits bestehenden Berichtspflichten an die Behörden weitere hinzukommen. Maßnahmen, durch die man die Risikobewertung offenbar positiv beeinflussen kann – etwa die Einführung eines Buchhaltungssystems oder das Erstellen von Entwicklungsberichten – sind zwar für größere NGOs Standard, für sehr kleine NGOs aber aus Kapazitätsgründen kaum zu erfüllen. Doch es geht um mehr als die praktische Behinderung der Arbeit. Der Brief an die NGOs drückt auch aus, dass Aktivitäten der Zivilgesellschaft generell unter Verdacht stehen. Die selbst betroffene Menschenrechtsorganisation Media and Law Studies Association (MLSA) stuft den Brief denn auch vor allem als Versuch ein, „transparente und legitime NGO-Aktivitäten in der Türkei zu kriminalisieren”.

Die bereits auf den Wahlkampf 2023 ausgerichtete politische Stimmung in der Türkei lässt vermuten, dass die Luft für zivilgesellschaftliche Arbeit in den nächsten Monaten dünner wird. Das vage gehaltene Gesetz, das eigentlich dem legitimen Anliegen der Bekämpfung von Terrorfinanzierung und Geldwäsche gilt, dürfte hierbei eine Rolle spielen.