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Türkei
Zwischen NATO und Shanghai

Shanghai Cooperation Organisation
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Sergei Bobylev

Mitte September fügte der türkische Präsident der Geschichte seines außenpolitischen Balanceakts ein neues Kapitel hinzu: Als einziger Vertreter eines NATO-Landes besuchte er den Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Samarkand. Die Türkei ist seit 2013 Dialogpartner der Regionalorganisation. Der Gipfel erfuhr mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in diesem Jahr besondere Aufmerksamkeit, einschließlich der türkischen Ambitionen im Kreis der SCO-Mitglieder, Beobachter und Partner. Dominiert wurde das Treffen durch die anwesenden Präsidenten Russlands und Chinas, Wladimir Putin und Xi Jinping. Für letzteren war die Reise nach Samarkand sogar der erste Auslandsaufenthalt seit Beginn der Coronapandemie. Anwesend waren außerdem die Vertreter der SCO-Mitglieder Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, Indien und Pakistan sowie Vertreter von offiziellen Beobachterstaaten und weiteren Dialogpartnern.  

Anti-NATO oder Papiertiger

Die 2001 gegründete SCO ist mit 40 Prozent der Weltbevölkerung und 30 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung de facto die größte Regionalorganisation der Welt. Sie gilt allerdings im Wesentlichen als Papiertiger oder, wie der Tagesspiegel schrieb, als „Mauerblümchen der internationalen Politik“. Die vielfach verbreitete Charakterisierung als antiwestliches oder gar „Anti-NATO-“ Bündnis korrespondiert zwar sicherlich mit den Moskauer Interessen, wird aber der Realität kaum gerecht. So schreibt Andrea Schmitz von der Stiftung Wissenschaft und Politik, die Ziele seien vor allem, die Übel von Extremismus, Terrorismus und Separatismus in der Region zu bekämpfen und Grenzstreitigkeiten zwischen den Mitgliedern zu regulieren. Die Interessenlage sei divers und insbesondere Kasachstan und Usbekistan wollten blockfrei bleiben und eher die starken Nachbarn China und Russland ausbalancieren. Die SCO ist ihrer Natur nach kein reines Verteidigungsbündnis, sondern umfasst die Zusammenarbeit in politischen, Sicherheits-, aber auch wirtschaftlichen Fragen.

Türkei als künftiges Mitglied?

Während Chinas und Indiens Staatschefs mit ihren missbilligenden Bemerkungen zum russischen Angriffskrieg sicher die größte internationale Aufmerksamkeit erlangten, setzte auch Präsident Erdogan einen bemerkenswerten Akzent. Er kündigte an, eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Regionalorganisation anstreben zu wollen. Gespräche darüber sollten beim kommenden Gipfel 2023 in Indien stattfinden. Damit wäre die Türkei das erste Land in der SCO, das zugleich NATO-Mitglied ist. Ganz ausdrücklich betonte er damit, dass die Türkei nicht eindeutig in einem „Lager“ zu verorten sei: „Wir sind Teil der Welt. Weder Ost noch West“. Cagri Erhan, Professor für Internationale Beziehungen und Mitglied des Sicherheitsbeirats, der den türkischen Präsidenten berät, erläuterte dazu auf Twitter: „Ankara strebt nicht nach Alternativen zum Westen, sondern nach ausgewogenen Beziehungen zu allen Teilen der Welt.“ In den Hauptstädten der NATO dürfte die Initiative einiges Stirnrunzeln auslösen, nicht zuletzt, da immer mehr autoritäre Staaten in die SCO streben. Auf dem Gipfel in Samarkand unterzeichnete Iran Dokumente, die den Staat einem Beitritt näherbringen. Auch der Beitritt von Belarus soll vorbereitet werden. Saudi-Arabien, Katar und Ägypten wollen neue Dialogpartner werden.

Aus russischer Sicht muss eine stärkere Einbindung der Türkei in die eigene Einflusssphäre wünschenswert erscheinen. Die Bedeutung des Landes hat nicht zuletzt dadurch zugenommen, dass es eine der Lebensadern geworden ist, über die Russland angesichts der westlichen Sanktionen Handel treibt – die türkischen Exporte nach Russland etwa sind laut Handelsblatt um 46 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Die Türkei bewegt sich dabei scharf an der Grenze zur Umgehung von Sanktionen, wie die Einführung und Wiederabschaffung (auf amerikanischen Druck) des russischen Zahlungssystems MIR durch einige türkische Banken kürzlich illustrierte. Je enger Moskau die Türkei in seinen Dunstkreis ziehen kann, umso größer das Störpotential innerhalb der NATO. Die von RIA Nowosti berichtete Aussage des russischen Außenministers Lawrow in Samarkand, vor einem SCO-Beitritt der Türkei müsste diese die NATO verlassen, überrascht deshalb. Davon abgesehen, dass das Statut der SCO ein solches Ausschlusskriterium nicht enthält, ist es aus heutiger Sicht nicht denkbar, dass die Türkei ihre Verankerung in der westlichen Verteidigungsallianz für eine Mitgliedschaft in der SCO aufgeben würde. Dies wird nach Ansicht des Mercator Institute for China Studies auch in Peking so gesehen, wo man zumindest derzeit eine hart konfrontative Linie gegenüber dem Westen vermeidet und einem SCO-Beitritt der Türkei daher vorsichtig gegenübersteht.

Wenngleich also aus NATO-Sicht mit Skepsis auf die türkischen Ambitionen gen Osten geschaut werden muss, dürften die Beitrittsambitionen Ankaras im Moment vor allem als Pfand gegenüber den westlichen Bündnispartnern wirken. Dies ist im Übrigen nicht neu: Bereits 2013, als im Angesicht der Gezipark-Proteste die Aussichten auf einen EU-Beitritt der Türkei immer unrealistischer wurden, brachte Erdogan eine SCO-Mitgliedschaft als Alternative ins Spiel. Inwiefern die türkische Integration überhaupt ein realistisches Szenario in die SCO ist und wie sich diese in Zukunft aufstellen wird, hängt nicht zuletzt von der politischen Gestalt Russlands nach dem Ende des Krieges in der Ukraine ab.