Gutachten
„Überwachungsgesamtrechnung“ – Wie der Staat Bürger überwacht
Deutschland braucht endlich eine Gesamtschau aller Überwachungsgesetze. Je weiter die Digitalisierung aller Lebensbereiche voranschreitet, umso mehr Datenspuren gibt es und umso mehr Datensammlungen entstehen. Die Begehrlichkeiten des Staates, auf diese Datensammlungen zugreifen zu können, wachsen. Es entstehen weitergehende Überwachungsmöglichkeiten als beim Blick auf die bloßen Ermächtigungsgrundlagen für Sicherheitsbehörden sichtbar wird. Dabei geht es nicht länger nur um staatlich angelegte Datensammlungen. Auch die Datensammlungen von privaten Akteuren werden zunehmend vom Interesse staatlicher Überwachungstätigkeiten erfasst. Der staatliche Zugriff auf private Datensammlungen macht Überwachung in einem neuen Ausmaß möglich, auch unabhängig davon, ob beispielsweise die verfassungs- und europarechtlich unzulässige Vorratsdatenspeicherung wiederaufgenommen wird. Schon in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2010 erkannte das BVerfG, dass für die verfassungsrechtliche Bewertung von Überwachungsmaßnahmen eine isolierte Betrachtung der jeweiligen Einzelregelung zu Datenspeicherung oder Datenzugriff perspektivisch nicht mehr genügen wird. Vielmehr ist der Gesetzgeber zu einer größeren Zurückhaltung mit Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen angehalten. In der Rechtswissenschaft wurde daraufhin anhand des Begriffs der „Überwachungsgesamtrechnung“ eine Debatte angestoßen. Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit fordert in seinem 28. Tätigkeitsbericht eine sogenannte „Überwachungsgesamtrechnung“, gepaart mit einem Sicherheitsgesetzmoratorium. Trotzdem existiert bis heute kein Konzept und keine Methode, wie die quantitative und qualitative Überwachungslast der Bürgerinnen und Bürger gemessen und gemonitort werden kann.
Durch Darstellung des objektiven und quantifizierbaren Überwachungsumfangs steigt die Rechtfertigungslast für die Einführung immer neuer und immer umfangreicherer Überwachungsgesetze.
Die Einführung einer solchen Überwachungsgesamtrechnung ist aber Voraussetzung dafür, dass der Gesetzgeber empirisch fundiert und an Fakten orientiert eine bürgerrechtsfreundliche und grundrechtskonforme Gesetzgebung gestalten und umsetzen kann. Damit ist eine Überwachungsgesamtrechnung auch ein wichtiger Beitrag zu einer Versachlichung der Debatte über die Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland. Durch Darstellung des objektiven und quantifizierbaren Überwachungsumfangs steigt die Rechtfertigungslast für die Einführung immer neuer und immer umfangreicherer Überwachungsgesetze. Die immer wieder angemahnte Evaluation bereits bestehender Sicherheitsgesetze vor der Einführung neuer Sicherheitsgesetzte kann seriös nur auf der Grundlage einer Überwachungsgesamtrechnung erfolgen. Denn Einzelmaßnahmen auf ihre Effektivität oder die Intensität des Grundrechtseingriffes zu bewerten, blendet bewusst das Gesamtbild der Überwachungslast auf die Bürgerinnen und Bürger aus.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht damit beauftragt, ein operationalisierbares Konzept zur Etablierung einer Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR) zu erforschen.
Die erste Projektphase ist mit einer Zusammenstellung und ersten Analyse zu den existierenden Überwachungsszenarien nun abgeschlossen und hat folgende erste Ergebnisse erbracht:
- Der Zwischenbericht zeigt erstmalig eine umfassende Bestandsaufnahme der Überwachungslandschaft in Deutschland.
- Der Zwischenbericht zeigt schon jetzt das quantitative Ausmaß von Datensammlungen. Mindestens 15 Überwachungsszenarien mit überwiegend anlasslosen Massendaten sowie ca. 50 einzelne Datensammlungsszenarien und Zugriffsmöglichkeiten…
- …beweisen schon jetzt das Ausmaß der Überwachungslast auf alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
- Die Übersicht zeigt auch nachdrücklich, dass Daten bzw. Datenbestände privater Akteure, die im privaten Interesse angelegt worden, ein riesiges neues Reservoir für staatliche Überwachungsmaßnahmen bieten.
Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit wird auf der Grundlage dieser Ergebnisse im Dialog mit anderen Akteuren auch aus der Zivilgesellschaft im Laufe des Jahres eine Methode zur quantitativen Analyse der Überwachungslast diskutieren. Ziel ist es, ein periodisches Überwachungsbarometer zu schaffen, welches die Folgen der Überwachungslandschaft und der daraus entstehenden Überwachungslast auf grundrechtlich geschützte Freiheitsrechte transparent macht.
In einer Sachverständigenanhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages am 22.02.2021 hat einer der Gutachter, Herr Prof. Dr. Ralf Poscher, die ersten Ergebnisse bereits der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Anhörung können Sie hier abrufen. Die verwendete Präsentation finden Sie hier zum Download.
Annett Witte ist Abteilungsleitung des Liberalen Institutes und stellvertretende Geschäftsführerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.