Krieg in Europa
Melitopol: die ersten Tage des Krieges
Erst heute erreicht uns der Bericht einer Augenzeugin des russischen Angriffs auf Melitopol, den sie in den ersten Tagen des Kriegs verfasst hat. Es ist wichtig zu sagen: Ihre Schilderungen geben nicht die aktuelle Lage in der Stadt wieder. Aber sie zeigen, wie es ist, wenn der Krieg kommt, von einem Tag auf den anderen. Deshalb ist der Bericht der Augenzeugin ein Zeitdokument, das Bestand hat. Die Augenzeugin möchte anonym bleiben, um ihre noch in Melitopol verbliebenen Angehörigen nicht zu gefährden.
Am 23. Februar arbeiteten wir alle den ganzen Tag wie gewohnt. Wir haben wegen Vorbereitungen für eine wichtige Arbeitspräsentation am nächsten Tag um 19 Uhr Feierabend gemacht. Um 4 Uhr morgens wachte ich durch den Anruf meiner Kollegen auf, die sagten: „Es hat angefangen. Packe deine Sachen zusammen und fliehe, sobald du kannst.“ Ich war verwirrt und mein Mann war nicht da. Er war im Urlaub und ich konnte nicht ohne ihn gehen. Meine Tochter sagte auch, der Krieg habe begonnen, aber es habe noch keine Explosionen gegeben.
Eine halbe Stunde später ging es los. Wir wohnen in der Nähe einer Militäreinheit. Dort fingen die Explosionen an. Leute aus anderen Städten riefen uns an, alle waren im Kontakt mit ihren Freunden und Verwandten. Viele fingen sofort an, ihre Sachen zu packen und fuhren los. Ich konnte aber ohne meinen Mann nicht gehen.
Am Morgen, als die Menschen die Stadt verließen, bildeten sich in Geschäften und Apotheken riesige Schlangen. Die Leute kauften alles. Da unsere Stadt die erste nach der Krim ist und die russischen Truppen von der Krim kamen, gab es Informationen, dass sich eine große Anzahl von Panzern in unsere Richtung bewegt und dass sie uns in einer oder zwei Stunden erreichen. Dies führte zu großem Chaos und zu einer zweiten Welle gegen 11 Uhr. Die Stadt begann auszusterben.
Unsere Streitkräfte haben zu diesem Zeitpunkt die Stadt verlassen. Ich weiß nicht, warum. Die Polizei auch. Also verteidigten die Territorialverteidigungsgruppen unsere Stadt. Die erste Nacht haben wir im Keller verbracht, als die Kämpfe in der Nähe von Melitopol begannen. Zwei Tage ließen unsere Kämpfer die Besatzer in die Stadt nicht eindringen. Wir konnten zwei Nächte nicht schlafen.
Die dritte Nacht war ruhig. Zu der Zeit haben wir Chats erstellt, um uns gegenseitig zu unterstützen. Die Leute schrieben, dass eine sehr große Anzahl von Streitkräften der Besatzer in der Nähe von Melitopol auf der Krimseite in die Stadt einmarschieren sollten. Am Morgen gab es bereits Gefechte dort.
Die Gefechte dauerten etwa zwei Tage an, dann drangen die Besatzer in Melitopol ein. Sie haben die Gebäude des Exekutivkomitees (des Stadtrates), die Polizeistation und einige andere Gebäude eingenommen und dort ihr Hauptquartier eröffnet. Übrigens haben sie alle BewohnerInnen des ersten Dorfes auf der Krimseite nach Henitschesk evakuiert. Die russischen Truppen nutzten das Dorf als Wohnort. Bis heute steht das russische Militär zwischen Melitopol und Saporischschja, aber es gibt auch eine große Anzahl von Streitkräften, die weiter vordringen – nach Mariupol, Orichiw und Enerhodar. Alle passieren Melitopol.
In der Stadt begann eine humanitäre Katastrophe
Nachdem die Besatzer in die Stadt eingedrungen waren, provozierten sie Plünderungen. Sie standen mit ihren Maschinengewehren in den Läden und ließen die Leute rein, damit sie alles mitnehmen. Auf diese Weise zeigten sie den Menschen, dass sie alles unter ihrer Deckung nehmen konnten, was sie wollten. Es gab viele solcher Leute, ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat. Wenn das Leben bedroht ist oder eine schreckliche Situation passiert, neigen die Menschen dazu, sich auf eine ganz andere Weise zu zeigen. Also nahmen sie alles, was sie konnten, verwüsteten alle Geschäfte und Apotheken. Sie nahmen sogar Kassengeräte und Stühle aus den Supermärkten mit.
In der Stadt begann eine humanitäre Katastrophe. Es gab einfach nichts mehr. Banken und Märkte waren geschlossen, die Preise sind gestiegen. Es gab einen großen Mangel an Babynahrung und Medikamenten. Man konnte immer noch in den umliegenden Dörfern Kartoffeln, Kohl usw. kaufen, aber die Preise haben sich fast verdoppelt. Es gab auch überhaupt kein Benzin.
In der Stadt war es sehr gefährlich. Die Leute hatten Angst, eine Nacht zu Hause zu verbringen. Es gab viele Fälle von Plünderungen im privaten Sektor, also haben sich die Nachbarn zusammengeschlossen. Wir haben vereinbart, einander zur Hilfe zu kommen, falls jemand nachts irgendwelche Geräusche hört. Das russische Militär griff nicht ein. Sie sagten: „Wir haben unser eigenes Geschäft, ihr habt euer eigenes.“
Wir haben uns schnell organisiert, uns in Gruppen aufgeteilt und einen Zeitplan erstellt; um sowohl Parkplätze als auch Nachbarschaften zu patrouillieren. Im Großen und Ganzen gelang es uns alles unter Kontrolle zu bekommen. Wir haben auch einen Chat über Plünderungen erstellt, in dem man Videos dieser Plünderer hochladen kann. Es gab sogar Fälle, dass das Gestohlene zurückgegeben wurde.
Die Stadtverwaltung versuchte zunächst, das Funktionieren der Stadt sicherzustellen. Sie haben einige Vereinbarungen getroffen, dass die Exekutive funktionieren kann, obwohl russische Truppen in die Stadt einmarschieren. Sie haben das akzeptiert. Sie sagten, die Behörden könnten zum Exekutivkomitee zurückkehren und arbeiten. Aber auf dem Gebäude wehte bereits die russische Flagge. Der Bürgermeister sagte, dass sie zurückkehren würden, wenn die russische Flagge entfernt würde. Sie haben die Flagge entfernt. Unsere Verwaltungsleute kamen herein, aber im Gebäude herrschte nur ein komplettes Chaos – alles war entweder kaputt oder geplündert. Also sagte der Bürgermeister: „Nein, wir werden hier nicht arbeiten.“
„Warum seid ihr gekommen? Sie sehen, uns geht es allen gut. Geht nach Hause!"
Am vierten Tag versammelte der Bürgermeister alle aus der Stadtverwaltung im Schewtschenko-Kulturhaus auf unserem Hauptplatz und sie haben angefangen, dort zu arbeiten. Sie haben in der Stadt alles repariert, was sie konnten. In einigen Bezirken gab es noch keine Heizung, aber alles andere funktionierte mehr oder weniger. Der Bürgermeister hat dort auch das humanitäre Hauptquartier eingerichtet, um den Menschen Hilfe zu leisten. Es wurde auch ein Empfangspunkt eingerichtet und viele Leute brachtenLebensmittel. So dauerte es ungefähr eine Woche.
Während dieser Woche kamen die Menschen zu Kundgebungen, um ihre pro-ukrainische Haltung zu demonstrieren. Anfangs gab es etwa 50 Leute, aber jeden Tag kamen mehr und mehr. Sie gingen durch die Viertel und riefen „Melitopol ist die Ukraine“, „Putin – raus“, „Besatzer – geht nach Hause“, „Wir sind hier die Regierung“. Ich sah Leute, die versuchten, mit den Soldaten vernünftig zu reden und fragten: „Warum seid ihr gekommen? Sie sehen, uns geht es allen gut. Geht nach Hause!". Die russischen Soldaten hatten nur eine Antwort: "Wir führen unsere Befehle aus." Als die Demonstranten zu dem Gebäude gingen, in dem die russischen Truppen ihr Hauptquartier eingerichtet hatten, begann das Militär in die Luft und in den Boden zu schießen. Eine Kugel prallte ab und verletzte einen Demonstranten, aber das passierte nur einmal, während ich dort war.
Immer mehr Menschen beteiligten sich an den Protesten. Den Russen gefiel das nicht. Wir haben gehört, dass sie angefangen haben, nach den Organisatoren zu suchen. Aber eigentlich gab es keine Organisatoren – nur Selbstorganisation. Dann kamen sie zu den Aktivisten, um sie einzuschüchtern. Sie haben das Regionalratsmitglied Leila Ibrahimova, Direktorin unseres Museums, verhaftet. Zwischen 6 und 7 Uhr morgens kamen sie zu ihr, durchsuchten ihre Wohnung, entnahmen ihr das Handy und nahmen sie mit. Einen halben Tag lang wussten wir nicht, wo sie war, alle waren besorgt. Aber wie sie später sagte, sei alles „okay“ gewesen: Sie hätten sie verhört und nach dem Anstifter der Proteste sowie allen Aktivisten gefragt. Dann hätten sie sie gehenlassen, aber ihr Handy einbehalten.
Soldaten warfen Menschen gewaltsam in Wägen und fuhren sie aus der Stadt
Danach habe ich erfahren, dass der Bürgermeister entführt wurde. Es gab Kundgebungen zur Unterstützung des Bürgermeisters. Die Leute forderten: "Gebt den Bürgermeister zurück!“ Bei dieser Kundgebung wurde unsere Aktivistin Olha Haisumova, die ihre pro-ukrainische Position immer offen geäußert hat, in einen Wagen gesperrt und entführt. Die Leute hatten keine Angst, sie gingen trotzdem jeden Tag raus, aber plötzlich fing es an. Es kam zu weiteren Entführungen. Die Soldaten warfen Menschen gewaltsam in Wägen und fuhren sie aus der Stadt in Richtung Krim. Sie ließen die Frauen außerhalb der Stadt raus und nahmen ihnen die Handys weg. Sie sollten auf eigene Gefahr zu Fuß in die Stadt zurückkehren. Die Männer wurden noch weiter weg von der Stadt gebracht. Einige von ihnen kehrten zurück, andere bis heute nicht.
Viele in der Stadt hatten Angst vor Militäraktionen, weil russische Truppen jeden Tag von unserer Seite geschossen haben. Ihre Flugzeuge flogen von unserer Seite, um Saporischschja und Orikhiw zu bombardieren. Die Flugzeuge, die nach Mariupol fliegen, passieren auch unsere Stadt. Die Menschen, die deswegen Angst hatten, versuchten in die von der Ukraine kontrollierten Gebiete zu fliehen. Wir haben gehört, dass es einigen gelang, die Stadt zu verlassen. Der Transport der Hilfsgüter erfolgte auf eigene Gefahr. Es gab jedoch auch Fälle, in denen die russischen Streitkräfte auf einen Krankenwagen mit Medikamenten geschossen haben. Einige Zivilisten sind auch inoffiziell ohne "grüne Korridore" rausgefahren.
Wir haben auch versucht, die Stadt zu verlassen. Wir sind in mehreren Autos mit Kindern gefahren. Wir haben sie gesehen, die Besatzer, und wir hatten Angst, weil wir verschiedene Geschichten gehört haben, dass sie auch manchmal auf Autos schießen. Gott sei Dank fuhren sie an uns einfach vorbei. Aber an einem der Checkpoints wurde uns gesagt, dass die Gefechte bald beginnen würden. Und tatsächlich – 10 Minuten später hörten wir Schüsse. Wenn wir etwas früher gegangen wären, wären wir vielleicht durchgekommen, aber diesmal konnten wir die Stadt nicht verlassen. Viele andere wollten flüchten, konnten es aber auch nicht. Einige benutzten auf eigene Gefahr kleinere Routen, und ich hörte Geschichten, dass das russische Militär auf Autos geschossen hatte. Auch wurde den Menschen das Auto weggenommen, sodass sie gezwungen waren, zu Fuß nach Hause zurückzukehren. Einige Autos wurden sogar von Panzern überfahren - es wurde gefilmt. Es war einfach beängstigend. Ich habe jeden Tag „auf gepackten Koffern gesessen“, und schließlich habe ich es geschafft zu fliehen.
Denjenigen, die Angst hatten, boten die Besatzer an, auf das Territorium der Krim zu ziehen, und versprachen ihnen, einen „grünen Korridor“ zur Verfügung zu stellen. Sie sagten, es gäbe in Tschonhar sogar Staus, aber es sei unklar, was danach mit den Menschen passiere oder ob sie nicht gezwungen würden, dort für immer zu bleiben. Leider weiß niemand etwas von dieser Route.