Krieg in Europa
Zerstörung des Staudamms von Kachowka: eine Katastrophe mit globalen Folgen
In der Nacht auf den 6. Juni wurde eines der größten Kriegsverbrechen der Gegenwart begangen – russische Besatzer sprengten den Damm des Wasserkraftwerks Kachowka, was zur völligen oder teilweisen Überschwemmung von mehr als 80 Siedlungen führte. Insbesondere der gesamte Bezirk Korabel in der Hafenstadt Cherson stand vollständig unter Wasser; die Stadt Oleschky, die vor dem Krieg 24.500 Einwohner hatte, ein großer Teil der Stadt Nowa Kachowka und zahlreiche Dörfer in der Oblast Cherson wurden komplett überflutet.
Eine humanitäre und ökologische Katastrophe
Das geringe Volumen des Kachowka-Stausees veränderte nicht nur die Küstenlinie und die Entfernung zu allen kommunalen und Wasserversorgungsnetzen, sondern schuf auch eine neue Landschaft dieses Gebiets mit einem erheblichen Maß an Versumpfung. Im Unterlauf und im Dnipro-Bug-Mündungsgebiet kommt es bereits zu einer erheblichen Verschlechterung der Wasserqualität des Dnipro. Besonders gefährlich ist die Situation in den überschwemmten Gebieten, die besetzt sind. So herrscht in der Stadt Oleschky ein unerträglicher Gestank, es gibt keinen Zugang zu Trinkwasser, keine Strom- oder Gasversorgung, keine Möglichkeit, Wasser abzukochen (das Trinken von Rohwasser ist gefährlich für Gesundheit und Leben). Darüber hinaus behindern die russischen Besatzer die Freizügigkeit der betroffenen Bevölkerung aus dem Katastrophengebiet, wenn sie keinen russischen Pass haben. Das Ganze nimmt Ausmaße einer humanitären Katastrophe an.
Die Wassermassen zerstörten einzigartige Landschaften und Ökosysteme der Region. Im Schwarzen Meer entlang der Küste der Oblast Odesa begann die sogenannte „Wasserblüte“ – die schnelle Vermehrung von Algen und schädlichen Organismen – die auch die Küsten Rumäniens und Bulgariens erreichen kann. Der Müll schwimmt entlang der Küste von Odesa und verwandelt das Wasser in einen schmutzigen Müllstrom. Die unterhalb des Staudamms gelegenen Naturschutzobjekte, darunter das Biosphärenreservat Schwarzes Meer, könnten ihre ökologische Einzigartigkeit für immer verlieren. Die Wasserversorgung und -entsorgung in weiten Teilen der Südukraine, insbesondere in den Siedlungen der Oblaste Dnipropetrowsk, Saporischschja, Cherson und Mykolajiw, sind stark bedroht.
Weitreichende Folgen für den ukrainischen und globalen Lebensmittelmarkt
Das Ausmaß der Schäden in der Bewässerungslandwirtschaft werden erst langsam ersichtlich – die Obsternten und Getreidekulturen, die von der Bewässerung abhängig waren, sind bedroht. Die teilweise überschwemmten Flächen im Süden können wegen des Schlamms und anderer Verunreinigungen möglicherweise erst in einigen Jahren wieder landwirtschaftlich genutzt werden. Darüber hinaus kann sich der Verlust der Bodenfruchtbarkeit bereits in diesem und im nächsten Jahr auf den Gesamtertrag auswirken, und die Ukraine ist einer der weltweit wichtigsten Getreidelieferanten. Eine Verringerung der Produktion kann negative Auswirkungen auf den globalen Lebensmittelmarkt haben, darum ist die Wiederherstellung der Fruchtbarkeit der betroffenen Böden von internationaler Bedeutung.
Betroffen sind auch die Infrastruktur der Region, insbesondere Verkehrs- und Kommunikationswege, Strom- und Gasversorgungsleitungen. Nach der Stabilisierung des Flusswasserspiegels, die in wenigen Wochen erfolgen wird, wird die Versorgung der betroffenen Stadtteile und Siedlungen mit Energie, Wasser und Gas unmöglich sein. Daher wird der Wiederaufbau der Infrastruktur in naher Zukunft zu einem gesonderten und erheblichen Problem werden, das Materialien und Ressourcen erfordert, die in einem kriegführenden Staat, der die Zerstörung von Infrastrukturobjekten durch russische Raketenangriffe im Winter erlebt hat, ohnehin knapp sind.
Sprengstoffe und Minen können ins Schwarze Meer gelangen
Ein weiteres Problem ist die Erosion der russischen Militärdepots: bereits am Abend des ersten Tages der Katastrophe wurden Minen und Sprengstoffe im Wasser gesichtet. Es lässt sich bereits vorhersagen, dass Minen nach der Stabilisierung des Wasserspiegels Zivilisten und die (Land-)Wirtschaft erheblich gefährden werden. Ein Teil dieser gefährlichen Objekte kann in das Schwarze Meer gelangen und dadurch eine potenzielle Gefahr für alle Schwarzmeerstaaten werden. Ukrainischen Experten liegen keine Informationen über die Lage dieser Sprengstofflagerstätten, insbesondere von Granaten und Minen, vor, sodass unklar ist, wo sie später auftauchen werden. Gegenwärtig ist die Entminung eines Hektars landwirtschaftlicher Flächen teurer als der Kaufpreis dieses Landes.
Die Ukraine braucht dringend internationale Unterstützung
In dieser schwierigen Situation und unter Kriegsbedingungen zählt die Ukraine auf die internationale Gemeinschaft und die Hilfe ihrer Partner. Die ukrainische Regierung arbeitet an einem Maßnahmenplan zur Wiederherstellung des ursprünglichen Umweltzustands in den betroffenen Gebieten. Die Menschen, die sich im Katastrophengebiet und unter der Kontrolle der russischen Besatzer befinden, müssen dringend mit Trinkwasser, Energie und Nahrungsmitteln versorgt und eine Evakuierung aus dem Katastrophengebiet ermöglicht werden. Damit die betroffene Bevölkerung gerettet werden kann und der Ausbruch von Infektionskrankheiten verhindert wird, braucht es mehr diplomatischen Druck auf den Aggressorstaat.
Zu den humanitären Herausforderungen gehört der Bau von Unterkünften für die betroffene Bevölkerung, die nicht in ihre Häuser zurückkehren kann, nachdem sie wochenlang unter Wasser standen. Menschen in provisorischen Unterkünften brauchen Hilfe – oft fehlt es ihnen an grundlegenden Dingen. Darüber hinaus sollten die Regierungen Rumäniens und Bulgariens auf eine verstärkte Kontrolle der Meerwasserqualität achten, und die Ukraine bei der Wasseranalyse unterstützt werden. Vor allem darf bei dieser Katastrophe eines nicht vergessen werden: Sie muss als ein schweres Kriegsverbrechen in Erinnerung bleiben, das international verurteilt wird und die Täter zur Rechenschaft zieht.
Jewhen Chlobystow, Professor an der Kyjiwer Mohyla Akademie, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine.