Ukrainekrise
Jalta oder Helsinki? Der Westen muss die Antwort geben
Niemand wünscht sich Krisen. Und schon gar niemand wünscht sich Kriege. Wenn sie aber konkret drohen, helfen sie gelegentlich, auch das Denken zu schärfen, wirtschaftlich und politisch.
Eine jüngste Publikation von Timothy Garton Ash ist der beste Beleg dafür, und zwar im Fall der von Putin provozierten Ukrainekrise. Denn der angesehene Publizist und Professor veröffentlichte im Londoner Guardian einen brillanten Beitrag, inzwischen in der Süddeutschen Zeitung ins Deutsche übersetzt. In ihm stellte Garton Ash eine provokante Frage; Wo will der Westen eigentlich hin, nach Jalta oder nach Helsinki? Die beiden Städtenamen sind natürlich Chiffren für unterschiedliche sicherheitspolitische Leitbilder, die bei den Konferenzen im Abstand von 30 Jahren 1945 und 1975 postuliert wurden. Jalta 1945 steht dabei für eine Welt der Einflusssphären von Großmächten, Helsinki 1975 für eine Welt der souveränen, territorial integren Nationalstaaten. Putin zieht ganz klar in Richtung Jalta. Aber was tut der Westen?
Die Antwort lautete bisher: Er zauderte – und dies aus nachvollziehbaren innenpolitischen Gründen. Denn es gibt in vielen westlichen Ländern in der Breite der Bevölkerung ein gewisses Verständnis für das gedemütigte Russland, das nach den Machtverlusten seines Reiches in den neunziger Jahren und den damals vertraglich eingegangenen Verpflichtungen einem neuen Revanchismus frönt. Klaus von Dohnanyi, sozialdemokratischer Altpolitiker und Kenner der Außenpolitik, hat dies jüngst in einem Interview des Deutschlandfunks auf den Punkt gebracht und in einem Buch, das in Kürze erscheinen wird, ausführlich wiederholt. Dohnanyi sagt, der kardinale Fehler des Westens gegenüber Russland war die Osterweiterung der NATO und damit das Eindringen des westlichen Militärbündnisses in jene Regionen Europas, die Russland als Vorhof der eigenen Herrschaft ansieht. Der Westen hätte im eigenen Sicherheitsinteresse eine Lösung suchen müssen, die Russland politisch einbindet, ohne ihm freie Hand zu lassen. Jetzt erhält man für diesen Kardinalfehler die Quittung: Putins Russland bedroht die Ukraine und findet, wie jüngst bei den Olympischen Spielen zu beobachten, einen neuen großen autokratischen Freund: China.
Dohnanyis Sichtweise teilen viele im Westen, am wenigsten wohl noch in den Vereinigten Staaten, wobei dort vielleicht ganz ähnliche Großmachtinstinkte eine Rolle spielen wie in Russland selbst, aber eben mit genau umgekehrten Vorzeichen der Interessen. In Deutschland ist Dohnanyis Deutung durchaus populär, und dies wirkt sich auf die Position fast aller Parteien aus. Und es ist ja auch nicht zu bestreiten: In der Russlandpolitik wurden in den letzten Jahrzehnten sicherlich im Westen Fehler gemacht. Aber das ist Vergangenheit. Und die Geschichte steckt voller Fehler. Es bleibt die Kernfrage, die Garton Ash stellt: Welches Leitbild zählt international, das der Einflusssphären – auch gegen den Willen jener Nationen wie der Ukraine, die sich in der russischen Sphäre befinden – oder das der souveränen Staaten selbst? Da kann es eigentlich keine Zweideutigkeit geben, wenn man das internationale Recht ernst nimmt und einen Rückfall in die Geisteshaltung des 19. Jahrhunderts vermeiden will. Die war geprägt durch bilaterale Aggressivität der Großmächte, nicht durch multilaterale Kooperation auf Basis des Völkerrechts. Nimmt der Westen seine eigenen Werte Ernst, muss er gegenüber Russland hart bleiben: Helsinki statt Jalta.
Aber wie das tun ohne Krieg? Die Antwort kann nur lautet: durch glaubwürdige Androhung harter Sanktionen, vor allem wirtschaftlicher Art. Dass man diese Sanktionen nicht im Vorhinein Punkt für Punkt ausbuchstabiert, gehört zur professionellen diplomatischen Praxis. Verzicht auf Nord Stream 2, Einschränkung des Zahlungsverkehrs über SWIFT, Einfrieren von Auslandsguthaben Putin-naher russischer Oligarchen, all dies muss im Arsenal der Sanktionen verfügbar bleiben – und auch tatsächlich zur Anwendung kommen, sollte Russland in der Ukraine einmarschieren, selbst wenn die Kosten für den Westen hoch sind. Gerade deshalb ist es extrem unklug, wenn manche Politiker wie etwa Friedrich Merz (CDU) schon in vorauseilendem Gehorsam davor warnen, SWIFT anzutasten. Das nimmt dann natürlich einem wichtigen Bauteil der Drohkulisse seine Wirksamkeit.
Nur mit intakter Drohkulisse kann nämlich in diesen Tagen vernünftig mit Putin gesprochen und verhandelt werden. Dass dies seitens westlicher Länder in Form ausgiebiger, fast hektischer Reisediplomatie geschieht, ist dabei überaus ermutigend. Die fast täglichen Gespräche nahe der Front des Geschehens machen deutlich, dass der Westen es ernst meint und trotz mancher Schuldzuweisung von Washington gegenüber Berlin doch zusammenhält. Fast gewinnt man den Eindruck, dass Putins Säbelrasseln den Westen doch noch zusammenschweißt. Die pazifistische Sorglosigkeit, die den Westen über mehr als zwei Jahrzehnte charakterisierte, ist wie weggeblasen – dank Putins Truppenmassierung an der Grenze zur Ukraine. Es ist wie ein später, aber nicht zu später „Wake-Up Call“ für alle. Hoffentlich auch für Putin. Er muss das Signal verstehen und beidrehen – von Jalta kommend in Richtung Helsinki. Der Westen sollte dazu diplomatische Brücken bauen, die Russland einen gewichtigen Platz in einer neuen Sicherheitsarchitektur versprechen. Aber nicht als Reich mit einer gewaltigen Einflusssphäre an seiner westlichen Grenze, sondern als Garantiemacht für eine multilaterale Ordnung.