Vietnam
Wahlen zur Nationalversammlung – Die Nominierung ist schon ein moralischer Sieg
Für die 500 Sitze der Nationalversammlung wird Vietnams Vaterlandsfront - ein Zusammenschluss aus politischen Institutionen, Organisationen und Individuen - voraussichtlich 868 Kandidatinnen und Kandidaten nominieren.
In Vietnam gilt seit 1976 der "partizipative Konsens der Vaterlandsfront“. Er umfasst, dass Kandidatinnen und Kandidaten für die Nationalversammlung vom Präsidium der Vaterlandsfront in Hanoi genehmigt werden müssen. Das Präsidium, in dem überwiegend pensionierte Partei-Funktionäre sitzen, erhält von drei Gruppen Bewerbungen für Kandidaturen: erstens von lokalen Vaterlandsfronten in 63 Städten und Provinzen, zweitens von zentralen Institutionen der Kommunistischen Partei, der Regierung oder der Nationalversammlung sowie drittens von individuellen Bewerberinnen und Bewerbern. Im Prinzip haben alle Bürgerinnen und Bürger Vietnams die Möglichkeit, in Eigeninitiative eine Kandidatur anzustreben. Sie werden, übersetzt man es wörtlich aus dem Vietnamesischen, als Gruppe der „selbst kandidierenden“ bezeichnet. Allerdings schrumpft die Gruppe seit Jahrzehnten. Als bei der Wahl vor fünf Jahren nur elf individuelle Kandidaturen zugelassen wurden, war das ein historischer Tiefstand. In diesem Jahr dürfen nur noch neun antreten. Denn jüngst gab die Vaterlandsfront bekannt, dass 21 individuelle Kandidatinnen und Kandidaten Anträge auf die Rücknahme ihrer Kandidaturen gestellt hätten. Ein weiterer Bewerber wurde von der Polizei festgenommen. Hintergründe sind nicht bekannt. Einer der wenigen zugelassenen individuellen Kandidaten ist Luong The Huy. Er leitet seit mehr als zehn Jahren eine Bewegung, die sich für LGBT-Rechte einsetzt.
Individuelle Kandidatinnen und Kandidaten haben nur 0,4% der Sitze
Dass auch individuelle Kandidaten zur Wahl stehen, hat in Vietnam lange Tradition. Als die Nationalversammlung 1946 erstmals nach einer Wahl zusammenkam, beschlossen Präsident Ho Chi Minh und das Innenministerium, auch Personen außerhalb der Vietminh-Front als Kandidaten einzuladen. Die Vietminh waren eine Vereinigung aller politischen Strömungen, die sich am Unabhängigkeitskampf beteiligten. Dazu gehörten damals auch Unternehmer und Intellektuelle außerhalb der Vietminh-Front. Sie stellten 1946 knapp ein Drittel der Abgeordneten der Nationalversammlung. Diese Gruppe ist Vorläufer der heute noch bestehenden individuellen Kandidaten. Dass immer weniger von ihnen zu Wahlen zugelassen werden, ist ein kontinuierlicher Prozess. Nach 1946 hatte es innerhalb der Vietminh hitzige Diskussionen gegeben. Der kommunistische Flügel warnte vor dem Einfluss von Unternehmern und vor Ausbeutung der Arbeiter- und Bauernklasse.
2016, als bei der Wahl nur noch elf individuelle Kandidaten antreten durften, gewannen nur zwei von ihnen Mandate der Nationalversammlung – halb so viele wie 2011. Damit stellen individuelle Kandidaten seit 2016 nur noch 0,4% der Abgeordneten. Kandidaten, die auf Empfehlungen von lokalen Vaterlandsfronten oder von zentralen Institutionen nominiert worden waren, gewannen dagegen 76,9% bzw. 22,7% der Sitze – insgesamt also 99,6%. Da in diesem Jahr weniger individuelle Kandidaten zugelassen wurden als je zuvor, dürfte die Wahl ähnlich deutlich ausgehen.
Besondere Anziehungskraft auf viele Wählergruppen
Laut vietnamesischer Verfassung sind die Abgeordneten der Nationalversammlung Vertreter des Willens und der Bestrebungen des Volkes in ihren Wahlkreisen sowie des Volkes im ganzen Land. „Richtige innere Struktur“ ist zu gewährleisten. „Es sollen Abgeordnete ausgewählt werden, die talentiert und moralisch vorbildlich sind und gleichzeitig ausreichende Kompetenz für die Aufgaben haben”, sagte Nguyen Phu Trong, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams. „Sie sollen die Richtlinien und die Politik umsetzen, die auf dem Parteitag bestimmt wurden“.
Das Präsidium der Vaterlandsfront in Hanoi, das auch den Ablauf der Wahlen überwacht, kann selbst bestimmen, welchen Anteil an individuellen Kandidaten es als „ausgewogen“ erachtet. Bemerkenswert ist, dass führende Vertreter der Nationalversammlung eine Quote von 10% für angemessen halten. Andere sehen schon 3% als „kritische Masse“ für eine wirksame Beteiligung individueller Kandidaten an. Als Abgeordnete sind sie trotz ihrer geringen Zahl Multiplikatoren.
Nominierung als moralischer Sieg
Sowohl auf Zentral- als auf Provinzebene sieht man individuelle Kandidaten nicht grundsätzlich skeptisch. Es ist bekannt, dass Frauen und Männer, die in Eigeninitiative Mandate anstreben, im Zeitalter der sozialen Medien besondere Anziehungskraft auf viele Wählergruppen haben. Gesucht werden vor allem praktische Lösungen für Alltagsprobleme und Zusammenarbeit divergierender Interessensgruppen. Allerdings: das letzte Wort bei Kandidaturen hat das Präsidium der Vaterlandsfront. Die wenigen individuellen Kandidatinnen und Kandidaten, die zugelassen wurden, betrachten allein ihre Nominierungen als moralischen Sieg. Außer dem LGBT-Aktivisten Luong The Huy, der Direktor eines Institutes für Sozial-, Wirtschafts- und Umweltforschung ist, stammen die zugelassenen Kandidaturen von der Vize-Präsidentin eines Juristenverbandes, vom Vorsitzenden eines medizinischen Verbandes, vom Vorsitzenden eines lokalen Unternehmerverbandes, vom Vize-Rektor einer Wirtschaftsuniversität, vom Direktor einer Berufsschule, von einem Anwalt, von der Geschäftsführerin eines Unternehmens sowie vom Direktor eines Forschungsinstituts für Digital-Wirtschaft. Ob sie am 23. Mai Sitze in der Nationalversammlung gewinnen, entscheiden die Wählerinnen und Wähler.