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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Volksaufstand
17. Juni 1953 – „Wir wollen freie Menschen sein!“

Die Erinnerung an diesen Tag und die Aufklärung über die SED-Diktatur sind heute wichtiger denn je.
Karl-Hein Paqué

Es war eine breite, vom Freiheitswillen der Menschen getragene Volksbewegung, die sich in den Junitagen 1953 gegen das SED-Regime erhob. Ausgelöst vom Streikzug der Berliner Bauarbeiter des DDR-Renommierprojektes der „Stalinallee“ entluden sich Wut und Unzufriedenheit der Menschen explosionsartig in Massenprotesten. „Das war eine ganz elementare Empörung – die Leute wollten keinen Sozialismus, sondern ein normales Leben“, so erinnern sich Zeitzeugen.

Hunderttausende gingen am 17. Juni spontan auf die Straße, Demonstrationen gab es in über 700 Städten und Gemeinden, in Leipzig, Dresden, Görlitz – und die wohl größte Protestversammlung in Halle an der Saale. Am Ende des Tages war es fast eine Million Menschen aus allen Schichten der Bevölkerung. Sie forderten die Ablösung der SED-Herrschaft, freie Wahlen und die deutsche Einheit, aber auch das Ende von Willkür und sozialistischer Planwirtschaft sowie die Rücknahme der kräftig erhöhten Arbeitsnormen. Von einem „unübersehbaren Plebiszit“ gegen den Anspruch der DDR als „Arbeiter- und Bauernstaat“ sprach der damalige Bundespräsident Theodor Heuss und forderte: „Gebt dem Menschen das Recht zu seiner Freiheit.“

Anlass war der von der SED im Sommer 1952 beschlossene „planmäßige Aufbau des Sozialismus“. Der Druck auf fast alle sozialen Gruppen wurde allgegenwärtig. Handwerker und Selbständige verloren ihre Existenz, flüchteten oder wurden vertrieben, Betriebe verstaatlicht und Bauern in die Kollektivierung gezwungen. Die Folgen blieben nicht aus: Der Produktionsrückgang verschlechterte die Lebensbedingungen dramatisch; an Wohlstand, der in Westdeutschland schon Einzug gehalten hatte, war nicht zu denken. Hinzu kamen die drastische Verschärfung des Strafrechts und dessen willkürliche Praxis. Vielen Menschen blieb nur die Flucht in den Westen. Bis die DDR-Machthaber diesen Weg mit dem Mauerbau 1961 versperrten, hatten knapp drei Millionen das Land verlassen. Als Walter Ulbricht im Juni 1953 auf Geheiß Moskaus schließlich Fehler bekannte und im „Neuen Kurs“ halbherzige Erleichterungen verkündete, war es zu spät.

Überraschend war vielleicht die Dimension des Aufstandes im ganzen Land, Protest und Wut der Menschen aber waren es keineswegs: Viele hatten sich seit langem gegen die Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung gewehrt, individuell oder in Gruppen Widerspruch gewagt, es gab Flugblätter und Losungen an den Wänden. Mehr als 900 DDR-Bürger wurden bis 1953 von den sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt, einige verloren ihr Leben - so der liberale Student Arno Esch.

Erfolgreich konnte der Protest nicht sein. Denn es herrschten die Bedingungen des Kalten Krieges– anders als bei der Friedlichen Revolution 1989: Zwar waren 1953 in Görlitz und anderen Orten die SED-Spitzen bereits aus den Rathäusern vertrieben worden, ganze Betriebsbelegschaften hatten sich den Protesten angeschlossen. Doch die Sowjetunion fürchtete um ihren Einflussbereich. So rollten gerade einmal acht Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder Panzer durch die Straßen, viele Menschen bezahlten ihr Eintreten für Freiheit und Selbstbestimmung mit Haft oder gar mit ihrem Leben. 15.000 Festnahmen und 1.800 politische Urteile sind eine grausige Bilanz der Niederschlagung der Volkserhebung. Dies traf Arbeiter und bürgerliche Gruppen gleichermaßen – in Leipzig etwa stellten Liberale den höchsten Anteil der Verhafteten.

Fortan schwebte der Aufstand vom 17. Juni als stille Drohung über jeder Maßnahme der DDR-Führung. Die SED besaß keine wirkliche Basis in der Bevölkerung und hielt ihr Regime nur mit innerer Repression aufrecht, mit der Stasi als zentralem Instrument der Überwachung und Unterdrückung. Auch mit der – von Erich Honecker nach 1971 verfolgten – Politik der auf Pump finanzierten sozialen Wohltaten ließ sich keine Loyalität der Bürger erkaufen. Der Versuch, Wohlergehen durch staatliche Bevormundungsprogramme zu erreichen, endete 1989 schließlich im Protest derer, die sich um ihre Lebenschancen und Optionen gebracht sahen.

Der „17. Juni“ ist nicht nur ein Markstein der Erinnerung für uns Deutsche. Er steht in einer europäischen Dimension des Ringens um Selbstbestimmung: 1953 strahlte der Aufstand bis in die sowjetischen Straflager nach Workuta aus, 1956 folgte Ungarn, 1968 der „Prager Frühling“, 1980 die polnische Gewerkschaftsopposition Solidarność. Alle Bewegungen wurden gewaltsam niedergeschlagen. Doch sie zeigen uns bis heute eindringlich die Freiheitssehnsucht der Menschen und die Hoffnungen auf Demokratie, Recht und Selbstbestimmung, die sich dann endlich 1989 erfüllten.

Die Erinnerung an diesen 17. Juni 1953 und die Aufklärung über die SED-Diktatur sind deshalb heute wichtiger denn je. Es ist erschreckend, wenn, wie jetzt geschehen, ein Berliner Bezirksparlament plant, gerade am Jahrestag der Volkserhebung seine Sitzung im Verlagsgebäude des „Neuen Deutschland“ abzuhalten – jener Zeitung, die 1953 als Sprachrohr der SED das Eintreten der Menschen für Freiheit und Recht als „faschistische Provokation ausländischer Agenten“ denunzierte. Der 17. Juni gehört zur europäischen Tradition des Ringens um Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Erinnern wir uns an den Mut vieler Menschen, ihr Leben für den freiheitlichen Verfassungsstaat einzusetzen, gegen Unmenschlichkeit und Zwangsherrschaft.