Neuerscheinung
Walter Scheel – 16 unerhörte Reden aus den Jahren 1966 bis 1979
Wer heute Geschichts- oder Politikstudenten nach Walter Scheel (1919-2016) fragt, bekommt zumeist irritierte Blicke als Antwort. Dessen Nach-Nachfolger Richard von Weizsäcker kennen hingegen alle, und mehr noch, die meisten wissen sogar den Grundgedanken aus dessen berühmtester Rede, der zum Gedenken an den 8. Mai 1945: Dass dieser Tag nicht nur Niederlage, sondern auch „Befreiung“ gewesen sei. Indes hatte schon ein anderer Bundespräsident diese Einordnung zum selben Anlass vorgenommen, nämlich eben jener Walter Scheel, ein Jahrzehnt vor Richard von Weizsäcker, zum dreißigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges. Der vierte Präsident der Bundesrepublik Deutschland ist weithin vergessen – wobei es lohnt, sich mit seiner Person und mit seinen Reden zu beschäftigen.
Und dies gilt nicht nur für Scheels Zeit im höchsten Staatsamt, sondern nicht minder für seine politischen Stationen davor. Denn: „Sein Leben steht beispielhaft für den erfolgreichen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg und zugleich für die Neuorientierung der Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre. Zu beidem hat er Wichtiges beigetragen, so viel wie nur wenige Deutsche seiner Generation.“ Mit diesen Sätzen fasste Bundespräsident Joachim Gauck im September 2016 auf dem Staatsakt für den verstorbenen Walter Scheel dessen politische Biographie zusammen. Der war zwei Wochen zuvor am 24. August im Alter von 97 Jahren verstorben.
Scheels Karriere in öffentlichen Ämtern ist eindrucksvoll, zumal er alle Stufen in jungen Jahren, manche als bis dahin Jüngster, erklommen hatte: Parlamentarier auf allen vier Ebenen, auf kommunaler, als Stadtverordneter in Solingen, als Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen, im Deutschen Bundestag und auf europäischer Ebene im Vorläufer des heutigen Europaparlaments. Scheel war erster Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit im letzten Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer und anschließend in der Regierung von Ludwig Erhard (1961-1966), Vizepräsident des Deutschen Bundestages (1967-1969), Bundesvorsitzender der FDP (1968-1974), Bundesminister des Auswärtigen in der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) und schließlich Bundespräsident (1974-1979).
„Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen.“
Der im Berliner be.bra Verlag jetzt erschienene und von der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit geförderte Band „Walter Scheel – Unerhörte Reden“ zeichnet das politische Wirken Walter Scheels anhand seiner Ansprachen nach. Allein in den fünf Jahren als Staatsoberhaupt hielt der ausgezeichnete Rhetoriker an die 250 Reden – acht davon sind in diesem Band dokumentiert. Dazu werden acht weitere herausragende Ansprachen aus verschiedenen Abschnitten seines politischen Wirkens dargeboten: Aus seiner Zeit als erster Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und als Bundesminister des Auswärtigen, ergänzt um drei des Parteipolitikers Walter Scheel als FDP-Bundesvorsitzender.
Ausgewählt wurden die insgesamt 16 Texte anhand ihrer zeithistorischen Bedeutung. Zudem greifen sie alle Themen auf, die uns heute noch etwas sagen: Zu Entwicklungspolitik, gesellschaftlichem Wandel, Europa, Deutschland in der Welt sowie seine innenpolitisch bedeutsame Rede im Kontext des Misstrauensvotums gegen Bundeskanzler Willy Brandt. Die Ansprachen aus seiner Zeit als Bundespräsident sind den Themen Vergangenheitsbewältigung, Integration, dem Verhältnis von Bürger und Staat gewidmet, zwei stammen aus dem „Deutschen Herbst“ 1977, eine befasst sich mit der Einheit Deutschlands. Das entstehende Bild wird eingerahmt durch Scheels Antrittsrede als Staatsoberhaupt und seine Abschiedsrede – oder vielmehr seiner ersten Rede als Staatsoberhaupt a.D. –, in der er nicht etwa Bilanz zieht, zurückschaut, sondern sich mit zukünftigen Herausforderungen der bundesdeutschen Gesellschaft befasst.
Alle Reden werden jeweils mit einem Essay eingeführt, der sie historisch einordnet und aus aktueller Perspektive beleuchtet. Die Autoren sind: Ewald Grothe, der Leiter des Archivs des Liberalismus, der die Reden bis einschließlich 1972 behandelt, und Gundula Heinen, die nach ihrer Zeit als Redenschreiberin heute im innenpolitischen Referat des Bundespräsidialamtes arbeitet; sie hat sich mit einer Ausnahme der Jahre ab 1973 angenommen. Die Einführung zur Rede zum dreißigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges stammt vom Herausgeber des Bandes Knut Bergmann, der in der Amtszeit von Bundespräsident Horst Köhler als Grundsatzreferent im Bundespräsidialamt, danach als Redenschreiber von Bundestagspräsident Norbert Lammert arbeitete und heute das Berliner Büro des Instituts der deutschen Wirtschaft leitet. Als Resultat ergibt sich ein facettenreiches Bild eines liberalen Staatsmannes, der seiner Zeit oft voraus war, der manch noch heute gültige Formel prägte und der nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern genauso seinen Nachfahren viel zu sagen hat.
Knut Bergmann (Hrsg.): Walter Scheel – Unerhörte Reden. Mit Beiträgen von Ewald Grothe und Gundula Heinen. Be.bra Verlag, Berlin 2021, 336 Seiten, 70 s/w-Abb., 26 Euro, ISBN 978-3-89809-188-6. Hier können Sie das Werk erwerben.