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Westbalkan: Grenzerfahrungen
Auf einer Fläche kleiner als die alte Bundesrepublik tummeln sich mit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien gleich sechs Staaten: der Westbalkan ist das kunterbunte Mosaik im Innenhof der Europäischen Union. Wie wenig integriert die Region in ein vereintes Europa nach wie vor ist, zeigt sich vor allem beim Reisen.
Für Menschen, die sich wieder Grenzen innerhalb Europas wünschen, ist der Westbalkan ein Paradies. Die Region strotzt vor Grenzen, auch EU-Außengrenzen (und hier sowohl Schengen- als auch „normale“ EU-Außengrenzen), damit verbunden langwierigen Grenz- und Zollkontrollen sowie anderweitiger Skurrilitäten.
Es gibt umstrittene Flussgrenzen (zwischen Serbien und Kroatien), Berggrenzen (zwischen Montenegro und Kosovo), ja sogar Seegrenzen (zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina). Es gibt Grenzen, an denen auf beiden Seiten Angehörige derselben Nationalität leben (beidseits des serbisch-bosnischen Grenzflusses Drina leben ethnische Serben), und Grenzen, die zumindest für eine Seite gar keine Grenze ist: aufgrund der Nichtanerkennung von Kosovo bezeichnet Serbien seine Grenzübergänge zu Kosovo offiziell als „Polizeiliche Kontrollpunkte innerhalb des Staatsgebietes der Republik Serbien gegenüber den Provisorischen Selbstverwaltungsinstitutionen in Priština“: Der Balkan in a nutshell.
Wer entweder an der kroatisch- oder ungarisch-serbischen Schengengrenze aus der EU aus- und an der serbisch-bulgarischen Grenze wieder in die EU einreist, kann im Sommer locker fünf bis zehn Stunden Wartezeit einplanen. Wer das Pech hat, Lkw-Fahrer zu sein, kann für gewöhnlich gleich mehrere Tage abschreiben.
Müssen EU-Bürgerinnen und Bürger bei Fahrten selbst in die entlegensten Winkel der EU kaum noch an Landesgrenzen abbremsen, so verbringen Menschen auf dem Westbalkan einen signifikanten Teil ihrer Zeit an Grenzübergängen. Vierzig Ein- und Ausreisestempel hat der Autor dieses Artikels innerhalb eines Jahres im Westbalkan angesammelt, mit geschätzten zwanzig Minuten Wartezeit pro Stempel im Schnitt.
Doch schlimmer geht immer: Die 1,8 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner von Kosovo benötigen aktuell für ihre Einreise in die EU noch immer ein Visum, das nur unter großen persönlichen wie finanziellen Anstrengungen zu erlangen ist; für Menschen wohlgemerkt, die mitten in Europa leben! Ende des Jahres soll mit dieser Praxis endlich Schluss sein.
Sehenswertes
Die Hauptstädte der Region sind allesamt sehens- und erlebenswert, gerade weil sie so verschieden sind. Während sich Zagreb in alter österreich-ungarischer Tradition gediegen, ja teils vornehm zeigt, lockt im Zwei-Millionen-Moloch Belgrad das laute, überbordende Leben. Der Mischmasch der Kulturen und Religionen ist in Sarajevo am spürbarsten, auch wenn es sich hier nach dem Bosnienkrieg von einem Miteinander zu einem Nebeneinander entwickelt hat. Die kosovarische Hauptstadt Pristina, zu jugoslawischen Zeiten noch Provinznest, ist heute eine boomende Stadt, in der an jeder Ecke gebaut wird.
Wer zwischen Belgrad und Sarajevo unterwegs ist, sollte unbedingt einen Besuch in der Völkermord-Gedenkstätte Srebrenica einplanen. Wohin Hass auf Minderheiten, gewaltsame Grenzverschiebungen und das Streben nach vermeintlich „reinen“ Nationalstaaten führen, wird an wenigen Orten in Europa so deutlich wie in der ehemaligen UN-Schutzzone, in der im Juli 1995 innerhalb von fünf Tagen 8.000 Muslime von bosnisch-serbischen Einheiten ermordet wurden.
Wer darüber hinaus dachte, der Balkan sei allein österreich-ungarisch oder eben osmanisch geprägt, der irrt. An vielen Orten lassen sich Überbleibsel der Illyrer, der Römer, der Goten, Slowaken oder Donauschwaben finden. Viersprachige Ortsschilder sind in der serbischen autonomen Provinz Vojvodina keine Seltenheit. Ein kleines Museum über die deutschen Spuren der Donauschwaben in der Region findet sich in Sremski Karlovci.
Sich Fortbewegen
Mangels Alternativen ist das Auto Fortbewegungsmittel Nummer eins auf dem Balkan. Eisenbahnstrecken gibt es wenige; Belgrad ist die größte Stadt Europas ohne U-Bahn. Am Kraftverkehr führt kein Weg vorbei. Entsprechend verstopft und smogbelastet sind die Großstädte der Region vor allem im Winter.
Nicht nur die mannigfachen Grenzerfahrungen machen das Reisen auf dem Balkan zu einem Abenteuer, auch die Straßen selbst tragen dazu bei. Ein Autobahnnetz gibt es, außer in Serbien, nicht. Umso mehr Zeit bleibt, die oftmals grandiose Landschaft zu genießen, auch wenn Achtsamkeit im Straßenverkehr grundsätzlich angebracht ist. Die Schluchten des Dinarischen Gebirges in Bosnien und Montenegro oder die bis weit in den Frühling hinein schneebedeckten Gipfel der Stara Planina in Südserbien entschädigen für die Unbedarftheit manches lokalen Verkehrsteilnehmers.
Wer den Balkan einmal auf eine ganz andere Art „erfahren“ möchte, kann von Mitte Juli bis September einmal täglich mit dem Zug von Belgrad bis an die montenegrinische Adriaküste nach Bar fahren. Elf Stunden dauert die Fahrt über 450 Kilometer laut Fahrplan, oftmals länger, auf einer der schönsten Bahnstrecken Europas durch die Dinarischen Alpen – Grenzkontrolle natürlich inklusive!
Markus Kaiser ist Projektleiter für den Westbalkan für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Belgrad.