Wirtschaft
Triumph des Zeitgeistes
Als “dismal science” – so wird die Volkswirtschaftslehre ironisch im angelsächsischen Sprachraum bezeichnet. Das ist ein Kompliment, denn die ökonomische Wissenschaft beschäftigt sich mit einem universellen und unangenehmen Problem: der Knappheit. Und da helfen weder Emotionen noch Ideologien, sondern nur nüchterne Analyse.
Genau diese zu liefern war immer die Aufgabe des Sachverständigenrats (SVR) zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage beim Bundeswirtschaftsministerium – seit seiner Gründung in den frühen sechziger Jahren. Bis anno 2022. In diesem Jahr ist alles anders, denn was der SVR gerade vorgelegt hat, ist tief geprägt vom Zeitgeist – so stellte als erster der Handelsblatt-Redakteur Thomas Sigmund fest. Und er hat vollkommen Recht. Vor allem der Blick auf die finanzpolitischen Vorstellungen des SVR macht überdeutlich, dass er sich nicht von nüchterner Analyse, sondern von den Gefühlslagen des Zeitgeistes leiten lässt. Allein drei zentrale Empfehlungen des SVR machen dies klar.
- Der SVR rät zu höheren Einkommenssteuern für Wohlhabende, sei es durch Erhöhung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer, sei es durch die Einführung eines Energie-Solis – beides befristet für die Zeit der Energiekrise. Dies ist eine überaus populäre Forderung. Das Problem dabei: Die Einkommensteuer (und/oder ein zusätzlicher Soli) ist für viele mittelständische Inhaber von Unternehmen nichts anderes als eine Art Gewinnsteuer, die direkt auf ihre betriebswirtschaftliche Kalkulation und Investitionsbereitschaft durchschlägt – und dies bei insgesamt stark gestiegener Kostenbelastung. Also: genau der falsche Weg! Daran ändert auch eine Befristung nichts, die im Übrigen politisch naiv ist. Alle Erfahrung zeigt nämlich, dass Steuererhöhungen von Dauer sind, und den Soli für die Kosten des Aufbau Ost gibt es in Restbeständen noch immer – drei Jahrzehnte nach Vollendung der Deutschen Einheit! Steuererhöhungen sind da, um zu bleiben, wie im Übrigen die Position Deutschlands als Hochsteuerland in Europa zeigt. Hinter Belgien liegen wir, was die Steuerbelastung betrifft, an zweiter Stelle. Folgt man dem Rat des SVR, rücken wir wohl an die erste Stelle – und maximieren damit unseren steuerlichen Standortnachteil.
- Der SVR rät davon ab, die Kalte Progression durch eine Tarifsenkung auszugleichen. Der Staat solle – jedenfalls auf absehbare Zeit – die zusätzlichen Einnahmen einbehalten und erst nach Ende der Energiekrise die Bürgerinnen und Bürger für die Zusatzbelastung kompensieren. Diese Empfehlung ist aus zwei Gründen schwer nachzuvollziehen: Zum einen läuft sie darauf hinaus, dass der Staat als Profiteur der hohen Inflation seine Gewinne durch die Teuerung voll abschöpft – jenseits dessen, was eine demokratische Legitimation vor Einsetzen der Preisinflation zum Inhalt hatte. Bei der derzeitigen Explosion des Preisniveaus mit jährlichen Steigerungsraten von 8 bis 10 Prozent erscheint dieser Rat abenteuerlich. Er liefe darauf hinaus, die volle Last der Inflation den Steuerzahlern aufzubürden – offenbar mit der Begründung, dass die Erfüllung der staatlichen Aufgaben wichtiger seien als die persönlichen Aufgaben der privaten Bürgerinnen und Bürger, eigentlich eine zynische Position, die das Vertrauen in den Staat untergräbt. Dies gilt umso mehr, als bei den derzeitigen Wachstums- und Inflationsprognosen der Staat mit weiter deutlich zunehmenden Steuereinnahmen rechnen kann, also auf absehbare Zeit keineswegs “verarmt” dastehen wird. Hinzu kommt natürlich wieder die Frage der Befristung eines Aufschubs: Wer kann glaubwürdig garantieren, dass die Kompensation nach der Energiekrise tatsächlich erfolgt, ggf. unter einer anderen Regierung?
- Der SVR rät, alle Hilfsmaßnahmen so zu gestalten, dass sie möglichst zielgenau wirken. Insbesondere solle eine soziale Differenzierung erfolgen: Wohlhabendere sollten weniger oder nicht profitieren, Ärmere dagegen umso mehr. Soweit, so nachvollziehbar. Fraglich ist allerdings, wie – jenseits der steuerlichen Belastung der Hilfszahlungen im Rahmen der Gas- und Strompreisbremse oberhalb eines Schwellenwerts des Jahreseinkommens (gedacht ist an ca. 70.000 Euro) – eine solche Zielgenauigkeit überhaupt institutionell umsetzbar ist. So haben zum Beispiel die Stadtwerke keine Informationen über das Einkommen und die steuerliche Situation ihrer Kunden. Und sie können diese auch ohne prohibitiven Verwaltungsaufwand mit Möglichkeiten des Missbrauchs kaum bekommen. Wie also könnte dann ein zielgenaues Hilfsprogramm überhaupt aussehen? Es fehlt beim SVR völlig an Vorschlägen, die tatsächlich den eigenen Rat praktisch untermauern könnten. Vielleicht ist dies auch gar möglich wegen der Konstruktion unseres Steuer- und Sozialstaats: Finanzämter, Sozialämter und die Bundesagentur für Arbeit mögen über unterschiedliche Informationen verfügen, aber es gibt allein schon wegen der Regeln des Datenschutzes keine Chancen, diese Informationen von staatlicher Seite zentral auszuwerten. Der Rat bleibt also in der luftigen Höhe der Theorie. In der Realität ist es dagegen kaum möglich, sog. Mitnahmeeffekte zu vermeiden.
Soweit die drei zentralen Kritikpunkte. Man wird bei Lektüre der Ratschläge des SVR den Eindruck nicht los, dass die Wissenschaftler die stark emotionalisierten Fragen einer drohenden Spaltung der Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Der Zeitgeist lässt da grüßen. Vernachlässigt wird dabei die zentrale Frage, wie wir am besten die Angebotsengpässe beseitigen, was für einen schnellen Ausweg aus der Krise nötig ist. Dazu bedarf es aber einer positiven und kreativen Angebotspolitik – und eben nicht einer Politik der Umverteilung. Dazu gibt der SVR keine Auskunft. Sieht man von seiner richtigen Empfehlung ab, die Laufzeiten der Kernkraftwerke nochmals zu verlängern. Man kann deshalb der Bundesregierung nur raten, zur Tagesordnung überzugehen.