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Moskaus verlogenes Denkmal

Irina Scherbakowa über die „Mauer der Trauer“
Mauer der Trauer
Am russischen Gedenktag für die Opfer politischer Gewalt wurde die Mauer der Trauer der Öffentlichkeit vorgestellt. © CC BY 3.0 wikipedia.org/ Kremlin.ru

Am vergangenen Montag hat der russische Präsident Wladimir Putin in Moskau das erste staatlich finanzierte Denkmal für die Opfer der politischen Repression in der Sowjetunion eröffnet. In den Worten des Präsidenten soll die „Mauer der Trauer“ dazu dienen, dass „wir und unsere Nachfolger niemals die Tragödie der Repression vergessen sowie die Gründe, die zu ihr geführt haben“. Die nicht-staatliche Menschenrechtsorganisation Memorial, die seit Jahrzehnten die Aufarbeitung des Traumas von politischer Repression in der Sowjetunion aufzuarbeiten versucht, hat den Kontext der Errichtung des Denkmals kritisiert. Im Gespräch mit Irina Scherbakowa, Leiterin der Bildungsprogramme von Memorial, versucht Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Moskauer Büros der Stiftung für die Freiheit, zu klären wie die Errichtung der „Mauer der Trauer“ einzuordnen ist.

Es gibt sowohl Kritik als auch verhalten positive Stimmen für die „Mauer der Trauer“. Kritik für die Verlogenheit trotz heute steigender Repression und neuen politischen Gefangenen so zu tun, als wäre das eine Angelegenheit einer anderen Vergangenheit. Und es gibt Stimmen, die sagen, dass das Denkmal wenigstens eine gewisse Anerkennung der Verbrechen der stalinistischen Repressionen ist. Was überwiegt für Sie?

Ich  muss sagen, für mich persönlich überwiegt das Gefühl der Verlogenheit. Es scheint, als wolle man einen Schlussstrich ziehen: Man ehrt die Opfer, aber gleichzeitig versucht  man, die Täter nicht  anzutasten und Stalin gar noch ins positive Licht  zu rücken. Das System, das zu den Opfern und zu dem Terror geführt hat, wird nicht verurteilt.

Irina Scherbakowa
Irina Scherbakowa © GoesselnIrina Scherbakowa 2015CC BY-SA 4.0

Sie haben betont, dass das neue Monument auch verschleiert, wie der Druck gegen Menschen, die die Geschichte der Repression in den russischen Regionen bearbeiten, weiter steigt. Davon spricht die Anklage gegen Jurij Dmitriew, der die Geschichte der Repression in Karelien beispielhaft aufgearbeitet hat, oder auch der Druck auf Ihren, von unserer Stiftung unterstützten, Essay-Wettbewerb zur Aufzeichnung individueller Geschichte. Glauben Sie, dass Präsident Putin das Monument eingeweiht hat, hat irgendeinen Einfluss auf das, was weiter in den Regionen passiert?

Wir haben z.B. mitbekommen, dass in  Karelien, wo  Dmitriew  im Gefängnis sitzt, am 30. Oktober auf dem Massenerschießungsplatz, den er praktisch erforscht hat, eine offizielle Veranstaltung  stattfand. Es war sehr formell; sein Name wurde aber nicht erwähnt. Ich glaube nicht wirklich, dass das neue Monument etwas bewirken kann. Es gibt vielleicht die kleine Hoffnung, dass das Thema durch Schüler, die die stalinistischen Repressalien in ihren Arbeiten zu unserem Schülerwettbewerb behandeln, in die Schulen getragen wird. Dort kann man sich offiziell dann auf das neue Denkmal beziehen. Bislang wurde  das Thema oft als „unpatriotisch“ bezeichnet und nicht ausreichend diskutiert. 

Sie sagen, dass der Staat über das Denkmal – ähnlich wie über das Moskauer Gulag-Museum – die Deutungshoheit über das Leid des Gulags zu bekommen versucht: Keine völlige Verleugnung, aber eine gewisse Abmilderung oder Verharmlosung. Was wäre Ihrer Meinung nach von Staatsseite notwendig, um Gulag und Repression wirklich aufzuarbeiten?

Die wirkliche Aufarbeitung muss damit beginnen, dass man das kommunistische Regime und Stalin juristisch verurteilt – das ist bis jetzt nicht passiert. Und, dass endlich der Zugang zu den Archiven gewährleistet wird, denn in  den letzten Jahren war die Tendenz eindeutig, die Archive unter  verschieden  Vorwänden wieder zu schließen – sei es zum Schutz von Einzelpersonen oder Staatsgeheimnissen.  Dadurch werden – natürlich – vor allem die Täter geschützt.

Die Fragen stellte Julius von Freytag-Loringhoven, Leiter des Stiftungsbüros in Moskau.