Wird das reformscheue Bulgarien zum Reformer der EU?
Bulgarien, das ärmste und gleichzeitig eines der jüngsten Länder der EU, übernimmt in diesem Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Freiheit.org hat mit unserem Projektleiter für Südosteuropa, Daniel Kaddik, über die anstehenden Aufgaben und Bulgariens Rolle in der EU gesprochen.
Welche EU-Baustellen kann die bulgarische Ratspräsidentschaft realistischerweise bearbeiten?
Zwar sind die Aufgaben der Ratspräsidentschaft in erster Linie organisatorischer Natur, jedoch stehen in diesem Jahr auch die weiteren konkreten Verhandlungen über den Brexit an. Als das dem Rat vorsitzende Land ist Bulgarien für die Verhandlungen mit Drittstaaten und vor allem für die Kompromissfindung innerhalb der EU zuständig. Das heißt, Bulgarien wird die detaillierte Abstimmung mit Großbritannien leiten – nicht ohne Grund hat die britische Botschaft in Sofia ihr Team aufgestockt.
Hinzu kommen die anhaltenden Diskussionen mit den Visegrád-Staaten zum Umgang mit Flüchtlingen und der schwelende Konflikt zwischen der Kommission, beziehungsweise dem Großteil der EU, und Polen und Ungarn. Beide Länder höhlen Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zunehmend aus. Hier müsste Bulgarien vermitteln.
Gerade diese beiden Punkte lassen sich in einen größeren Zusammenhang einbetten: Die Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union selbst. Mit Bulgarien hat erstmals eines der jüngsten Mitgliedsländer den Ratsvorsitz inne. Erst 2007 beigetreten, könnte Bulgarien die Diskussion über die Zukunft der Union reanimieren und vorantreiben. Bulgarien könnte insbesondere die Gründungsländer daran erinnern, warum wir die Europäische Union überhaupt brauchen – gerade in der heutigen Zeit. Es könnte den Mitgliedsstaaten wieder ins Gedächtnis rufen, dass die Europäische Union eben mehr ist als nur ein Zusammenschluss von Staaten. Die EU ist eine Wertegemeinschaft und ein Versprechen. Insbesondere dieses Versprechen ist es, was viele Bulgarien in der Union sehen. Es ist das Versprechen nach mehr Wohlstand und nach einem besseren Leben mit funktionierenden demokratischen Institutionen. Es ist aber auch das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das mehr ist, als nur den Pass in der gleichen Farbe zu haben wie die anderen Europäer. Die Bulgaren können den andern Europäern das so lange vermisste Wir-Gefühl näher bringen, dessen Abwesenheit vor allem in den letzten Monaten zu spüren war.
Dies würde zunächst jedoch eine starke Ratspräsidentschaft mit einem klaren Auftritt sowie die Bearbeitung der eigenen, landesspezifischen Baustellen voraussetzen. Beides liegt in weiter Ferne, obgleich Bulgarien das Thema Integration des Westlichen Balkans als eine Priorität ausgegeben hat und sich in diesem Zusammenhang als Pate von Reformen präsentieren möchte.
Welche eigenen Baustellen müsste das Land denn zunächst selbst angehen?
Insbesondere mit Blick auf Europa ist die Frage relativ leicht zu beantworten. Der beim EU Beitritt Bulgariens in Kraft getretene Überwachungsmechanismus der europäischen Kommission hat drei Komponenten: Rechtsstaatsreformen, Kampf gegen das organisierte Verbrechen und Kampf gegen Korruption. In keiner der genannten Kategorien hat Bulgarien in den letzten zehn Jahren nennenswerte Fortschritte gemacht. Schlimmer noch: Die meisten der begonnenen Reformen sind gescheitert. Zuletzt am 2. Februar legte Präsidenten Radev ein Veto gegen das neue Antikorruptionsgesetz ein – mit gutem Grund. Eine neue Institution sollte die Befugnisse mehrerer Behörden bündeln und hätte damit eine Machtfülle, die leicht zum Missbrauch einladen könnte. Mit Blick auf die generell anhaltende Kritik über die mangelnde Unabhängigkeit von Institutionen und die massive politische Einflussnahme sowie die immer wieder aufflammende Kritik am übermächtigen Generalstaatsanwalt ist die Angst sicherlich nicht ganz unbegründet.
Der weltweite Index der Korruptionswahrnehmung von Transparency International, bei dem Bulgarien mit Platz 79 abschneidet, zeigt jedoch, wie notwendig Maßnahmen gegen die grassierende Korruption benötigt werden. Bis 2015 gab es nur 72 Korruptionsfälle, die vor Gericht gelandet sind. Gleichzeitig gab mehr als ein Fünftel aller Bulgaren an, Bestechungsgelder gegeben oder angenommen zu haben.
So ist es nicht verwunderlich, dass Bulgarien nicht nur das ärmste Land in der Europäischen Union, sondern auch das Land mit dem geringsten Vertrauen in die eigenen Institutionen ist. Es ist ein Land, aus dem die Hälfte der jungen Menschen und drei Viertel der Medizinstudenten auswandern möchten. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist die Bevölkerung von ehemals 8 auf 7 Millionen geschrumpft. Bulgarien ist Sinnbild des europäischen Brain Drain.
Obwohl sich die bulgarische Regierung mit guten Wirtschaftszahlen schmückt, stagniert der Durchschnittslohn bei 525 Euro. Fast 38 Prozent der Rentner leben von der Mindestrente, etwa 100 Euro. Noch deutlicher wird es, wenn man sich vor Augen führt, dass 39,2 Prozent der Bulgaren es sich nicht leisten können, ihre Wohnungen ausreichend zu heizen.
Auch die ausländischen Investitionen werden in den letzten Jahren immer weniger. Handelsverbände mahnende die Probleme in Bürokratie und Rechtsstaatlichkeit an.
In dieser Gemengelage überschlagen sich derzeit in Sofia die Ereignisse wie ein Fanal zu Beginn der Ratspräsidentschaft. Anfang der Woche wurde der bekannte Geschäftsmann Petar Hristov auf offener Straße erschossen. Sein Fall weckt Erinnerungen an den Mafiakrieg zu Beginn der 2000er.
Für den Tag des Festaktes zur Übergabe der Ratspräsidentschaft haben mehrere Gruppen Proteste angemeldet. Nicht etwa gegen die EU, sondern um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für ihre Zwecke zu nutzen: Bürgergruppen haben Demonstrationen gegen die mehr als zwanzigfache Überschreitung der Grenzwerte von Luftverschmutzung in Sofia angekündigt. Tatsächlich sind die Organisatoren jedoch dieselben Wortführer, die seit Jahren Menschen gegen Korruption und Vetternwirtschaft auf die Straße bringen – vermutlich die eigentliche Botschaft des geplanten Protestzugs. Menschenrechtler wollen für die Ratifizierung der Istanbul Konvention demonstrieren, welche von einem Teil der Regierungskoalition abgelehnt wird. Selbst die Polizeigewerkschaft plant, ihre Mitglieder zu mobilisieren. Der Auftakt der bulgarischen Ratspräsidentschaft wird somit womöglich zum Spießrutenlauf vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Vielleicht ist das jedoch auch der so nötige Weckruf für die Regierung und Kommissionspräsident Juncker, der Bulgarien unlängst noch für seine Fortschritte lobte – offensichtlich in Unkenntnis der Berichte seiner eigenen Kommission.
Kann Bulgarien glaubhafter Mittler einer wertebasierten EU sein?
Zentrales Problem bleibt hier die Beteiligung der Ultranationalisten an der derzeitigen Regierung. Seit 2017 sind die so genannten Vereinigten Patrioten mit an der Macht. Das Bündnis aus drei Parteien regiert das Land als Koalitionspartner der Partei GERB von Premierministers Borissow. Bekannte xenophobe Nationalisten und Protektionisten werden damit Vorsitzende der verschiedenen Räte.
Wirtschaftsminister Emil Karanikolov wird beispielsweise dem Rat für Wettbewerb vorsitzen, während sich seine “Patrioten” für eine stärkere Nationalisierung und gegen ausländische Unternehmen stark machen. Vizepremierminister Valeri Simeonov macht aus seinem Hass gegen Minderheiten keinen Hehl, bezeichnet Roma öffentlich als “wilde Affen”. Der 2018 dem Rat für Auswärtige Angelegenheiten angehörende Krasimir Karakachanov ließ seine Parteigenossen während der Parlamentswahl die bulgarisch-türkische Grenze blockieren und gewalttätig gegen Türken mit bulgarischem Pass vorgehen, die in Bulgarien wählen wollten. Als Krönung tauchten unlängst Fotos eines Vizeministers mit Hitlergruß auf.
Grundsätzlich wird die europäische Wertehaltung weiter durch die Ablehnung der Istanbul Konvention des Europarates zur häuslichen Gewalt in Frage gestellt. Prominente Vertreter der “Patrioten” behaupten, es hätte die Einführung des Dritten Geschlechts zu Folge und würde zu einer Öffnung der Ehe für Homosexuelle führen.
Die Frage geht jedoch tiefer: Wie kann ein Land, das seine eigenen Reformvorhaben nicht erfüllt hat, glaubhaft die so notwendige Reform der EU vorantreiben? Wie kann ein solches Land glaubhaft für eine Integration des Westlichen Balkans werben, wenn es doch selbst zeigt, wie schnell Reformen hinten angestellt werden, sobald die EU-Mitgliedschaft einmal erreicht ist. 2018 wird uns vielleicht Antworten auf diese Fragen geben.
Daniel Kaddik ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Südosteuropa.