Notwendig, aber schwierig
„Mateusz kann die Polen vereinen”, ließ letztens die Mutter des neuen polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki in der Presse verlauten. Diese vermeintliche Befähigung zum versöhnlichen Kompromiss muss er nun über Polen hinaus beweisen. Die EU-Kommission hat das Verfahren gegen Polen gemäß Art. 7 des EU-Vertrages ausgelöst, mit dem Verletzungen der Grundwerte und -rechte der Europäischen Union geahndet werden. Insbesondere die Justizreform der nationalkonservativen Regierung, die der Regierung quasi die Macht zur Ernennung genehmer Richter überträgt, verstößt nach Auffassung der Kommission gegen die gemeinsamen rechtsstaatlichen Standards. Ob sich Morawiecki davon beeindrucken lässt, scheint fraglich. Innenpolitisch könnte ihm die Verschärfung des Konflikts mit der EU sogar nutzen.
Die Hoffnung, an die sich manche Optimisten noch geklammert hatten, dass Präsident Andrzej Duda die gerade vom Parlament verabschiedete Justizreform noch einmal mit einem Veto belegen könnte, hat sich nicht bestätigt. Er hat das Gesetz mittlerweile unterschrieben. Dabei hätte es aus rechtsstaatlichen Erwägungen durchaus Gründe für einen Widerspruch gegeben, denn durch die Reform bekommt die Regierungspartei PiS einen so großen Einfluss auf die Auswahl der Richter im Justizwesen, dass die Gewaltenteilung de facto abgeschafft wird.
Die Justizreform ist nur der Tropfen, der bei der Kommission das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Von der Kontrolle über die Staatsmedien bis zur Reform des Wahlrechts –überall hat die PiS-Regierung alles getan, um den Staat auf ihre Machtbedürfnisse zuzuschneiden. Insgesamt 13 fragwürdige Gesetze fand die EU in Falle Polens zu beanstanden. Alles das erfüllte letztlich ohne jeden Zweifel das Kriterium einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Grundwerte“ der EU und ließ der Kommission letztlich keine andere Wahl, als das Verfahren auszulösen.
„Wirken souveräne Staaten in einem Staatenverbund wie der EU mit, haben sie all deren Regeln und Entscheidungen zu achten. Ich bin es leid, dass dies immer wieder mit dem haltlosen Vorwurf eines angeblich westlichen Werteimperialismus verächtlich abgetan wird.“
Es gab in den letzten Wochen Kritik, dass die Kommission mit der Auslösung des Verfahrens zu zögerlich gewesen sei. Allerdings gibt es dafür auch Gründe. Die haben zum Teil etwas damit zu tun, dass ein für die EU positiver Ausgang des Verfahrens, das in einer Suspendierung des Stimmrechts Polens in der EU enden könnte, in keiner Weise garantiert ist. Und ein Scheitern wäre schließlich eine Blamage, die die Handlungsfähigkeit der EU langfristig in dramatischer Weise beeinträchtigen könnte. Die Kommission geht also ein Risiko ein. Um am Ende Verstöße wirkungsvoll zu sanktionieren, bedarf es der Einstimmigkeit unter den Mitgliedsländern. Ungarn, das unter Viktor Orbán ebenfalls systematisch die Rechtsstaatlichkeit unterminiert hat, hat bereits ein Veto signalisiert. Andere könnten folgen, obwohl die Chancen, dass die mitteleuropäischen Visegrad-Staaten in irgendeiner Weise geschlossen hinter Polen stehen werden, mittlerweile als gering zu bewerten sind.
Geschwächte Opposition
Daneben besteht aber vor allem das Risiko, dass in Polen die pro-europäischen und liberalen Kräfte durch eine Abstrafung des Landes eher deutlich geschwächt werden dürften. Auffallend war daher, dass die Oppositionsparteien im Lande in den letzten Tagen, als die Verfahrensauslösung sich anbahnte, sich fast jedes Kommentares enthielten.
Der Grund ist einfach: die Regierung hat das Thema so emotional aufgeladen, dass jede Stellungnahme zugunsten einer EU-Sanktion als eine Form milden Landesverrats geahndet wird. Wer sich um den Rechtsstaat sorgt, wird als Feind Polens gebrandmarkt. "Polen ist kein Bittsteller und wird niemanden um Erlaubnis bitten, wenn es seine Justiz reformiert." Mit diesem Satz machte Ministerpräsident Morawiecki vor einigen Tagen klar, worum es der Regierung geht. - und das kommt in Polen an.
Flankiert wurde das Ganze mit einer gegen Deutschland gerichteten Kampagne, die mit Reparationsforderungen für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs unterfüttert wird. Diese Kampagne hat sich bereits in den Wahlumfragen für die PiS bezahlt gemacht. Jetzt erleichtert sie die Argumentation, mit der Auslösung von Artikel 7 wolle die von Deutschland beherrschte EU im Kern Polen zum deutschen „Vasallenstaat“ machen, wie regierungsnahe Medien seit Wochen wiederholen. Jedenfalls muss die Opposition jedes Wort auf die Goldwaage legen, um nicht in ein schiefes Licht gerückt zu werden. Längerfristig spekuliert sie eher darauf, dass der juristische Weg weniger risikoreich und erfolgversprechender ist als der offene politische Schlagabtausch.
Belastungstest für Morawiecki
Ministerpräsident Morawiecki durchlebt mit der Auslösung des Art. 7 seinen ersten Belastungstest. Erst kürzlich hat er Beata Szydło im Amt abgelöst und manche Kommentatoren erhofften sich von ihm eine mildere Gangart, da er nie zum inneren Kern der konservativen Hardliner gehörte. Von ihm hatten sich die PiS-Strategen um den Vorsitzenden Kaczyński erhofft, dass er als „Gemäßigter“ auch in die Wählerschaft der Opposition ausgreifen würde und, wie seine Mutter ja ebenfalls erhofft hatte, „die Polen vereinen“ könne.
Diese Einigungsfähigkeit beweist er zurzeit auch, wenngleich nicht im Sinne der EU. Unter Szydło neigten die einzelnen Fachminister zu Alleingängen, wenn es darum ging, mit „Brüssel“ Rechnungen zu begleichen. Das Ganze lief bisweilen unkoordiniert ab, womit jetzt Schluss ist. Es gibt eine klare Linie: ohne den zuständigen Umweltminister überhaupt zu konsultieren, hat er beispielsweise zugesichert, dass Polen das EuGH-Urteil gegen die umstrittene Rodung von Teilen des Naturschutzparks Białowieża einzuhalten gedenkt, was bisher abgelehnt worden war. Die Strategie scheint zu sein, dass jetzt zunächst einmal Einzelkämpfe und Nebenkriegsschauplätze eingedämmt werden sollen, vermutet die angesehene Tageszeitung „Rzeczpospolita“. Sei am Ende nur noch die Justizreform der Stolperstein, hätte Polen ein leichteres Spiel.
Es könnte also sein, dass sowohl EU als auch der Opposition nun ein taktisch wesentlich geschickterer Gegner gegenübersteht. Das Nachgeben bei Nebenfragen und die kompromisslose Versteifung auf den harten Kern der Agenda macht eine gütliche Einigung, bei der beide Seiten formal das Gesicht wahren, möglicherweise wahrscheinlicher.
Sollte das nicht geschehen oder sollte sich etwa Jarosław Kaczyński aus ideologischen Gründen gegen etwaige Aufweichungen bei „Nebenthemen“ stemmen, wird die Regierung alles zu Gebote stehende zu tun, um die Stimmung im Lande anzuheizen. Obwohl das Land von einer gewählten Nationalistenpartei regiert wird, sind die Bürger in Polen laut Umfragen mit überwältigender Mehrheit ausgesprochen pro-europäisch eingestellt. Ein ungeschicktes und zugleich erfolgloses hartes Vorgehen seitens der EU könnte aber die Stimmung kippen lassen. Schon jetzt stärkt das Vorgehen der Kommission, so notwendig es auch ist, die Reihen der Euroskeptiker in Polen. Kein Wunder, dass man in EU-Kreisen die Auslösung von Art. 7 immer als „Nuklearoption“ bezeichnet hat.
Es geht um viel
Über das weitere Vorgehen muss nun, nachdem die Kommission das Verfahren eingeleitet hat, der Europäische Rat entscheiden. Er steht vor einer heiklen und in der Geschichte der EU einmaligen Aufgabe. Trotz der begrenzten Machtmittel der EU und der Entschlossenheit der polnischen Regierung, im Kern keine Kurskorrektur zuzulassen, muss am Ende ein klares Signal stehen, dass in der EU gemeinsame Standards bei Grundwerten und Rechtsstaatlichkeit bestehen. Das ist, so weiß man auch in Brüssel, eine Existenzfrage der EU. Diese Aufgabe wird noch viel Verhandlungsgeschick erfordern.
Dr. Detmar Doering ist Projektleiter für Mitteleuropa und die Baltischen Länder der Friedrich-Naumann-Stiftung in Prag.