Redefreiheit
Dieser Artikel erschien zuerst im liberal-Magazin.
Man muss beharrlich sein, so schreibt Timothy Garton Ash, enger Freund von Lord Ralf Darendorf , in seinem Buch über die Redefreiheit, um ruhig und besonnen eine liberale Position zur Redefreiheit zu vertreten, mit Respekt vor komplexen Sachverhalten, mehr um Wahrheit als um Unterhaltsamkeit bemüht.
Der Verfasser lockt den Leser in das Buch hinein, lässt ihn nicht wieder los und verlangt Biss und Ausdauer. Es ist die zentrale Botschaft dieses Buches, dass die Redefreiheit so wenig wie möglich durch Gesetze oder durch Maßnahmen „von Regierungen oder Privatkonzernen eingeschränkt wird“. Da weiß der Leser gleich, woran er ist.
Dass autoritäre Systeme weltweit auf dem Vormarsch sind und Meinungs- und Redefreiheit bedrängen, ist die erkennbare Bedrohung.
Die Diskussion darüber verdeckt Subtileres. Gesetze können wie Gummi sein, schreibt der Autor. Die Macht des Geldes spielt eine Rolle, das Eigentum an Medien, die Machtbeziehungen, sowohl in illiberalen Gesellschaften wie in offenen Demokratien. In manchen Gesellschaften können religiöse, soziale und kulturelle Normen zwingender sein als eine geschriebene Verfassung. Es bedarf dann schon einer wirklich unabhängigen, mutigen Justiz, um Verfassungsbestimmungen, die gegen manche bedrohliche menschliche Natur schützen, Geltung zu verschaffen. Dass eine Mehrheit nicht alles darf und das Motto ,,Ich bin das Volk, mein Wille geschehe“ von einer Verfassung gebremst werden kann, ist immer wieder wichtig.
Die Macht bestimmt vielerorts, was als Wissen zählt.
Auch Eitelkeiten mit einer gewissen Sucht nach Distinktionsgewinn statt wirklichem Erkenntnisdrang. Die großen Katzen, die vielen kleinen Mäuse und die Hunde, so beschreibt der Verfasser des Buchs das weltweite Netz zwischen Kommunikationsmöglichkeiten, den vielen Nutzern und einer Justiz, die sich geradezu abstrampelt, allein schon innerhalb eines nationalen Geltungsbereichs Meinungsfreiheit zu schützen, aber auch manche Hasstiraden zu unterbinden. Ganz zu schweigen von den „identitätsbasierten Beleidigungsvetos“, die immer größere Märkte erobern und an immer mehr Tabuschrauben drehen, so Garton Ash. Sollte unser Staat etwas erlauben oder verbieten? Verbunden mit der viel komplizierteren Frage: Was ist denn die angemessene gesetzliche oder nicht gesetzliche, geschriebene oder ungeschriebene Form der Beschränkung oder die angemessene Konvention für diese spezifische Art der Meinungsäußerung in diesem besonderen Kontext, wenn sie überhaupt beschränkt werden muss? Das beschäftigt Timothy Garton Ash ganz ungemein und sein erzählerisches Talent breitet er in vielen Einzelfällen aus. Seine Conclusio: Das Strafrecht und die Zwangsgewalt des Staates zur Bekämpfung wirklicher Schäden im Kampf der Worte ist eine so gigantische Aufgabe, dass sie ohne das Vorfeld einer kulturoffenen Diskussion und robusten Zivilität nur wenig ausrichten kann.
Die niemals endende Reise zu dem, was Kant die Weltbürgergesellschaft nannte, so schreibt der Historiker, habe in unserer Zeit eine neue Dringlichkeit bekommen. Dabei will sich der Verfasser nicht auf das, was er als „Pudding ökumenischen Geschwafels“ ganz scharf beschreibt, einlassen. Die Verschwommenheit vieler Kataloge guter Absichten ist ihm ein Gräuel. Er beschreibt ganz einfach Prinzipien einer modernen liberalen Haltung zur Meinungsfreiheit, ohne sie als exakte Vorgaben für Gesetze verstanden wissen zu wollen. Er macht sie möglichst einfach zugänglich, wie er in einer Bedienungsanleitung selbst beschreibt. Die Mittel, durch die, wie er glaubt, die Einhaltung von Prinzipien am besten gewährleistet sind, reichen von der Androhung von Gefängnisstrafen, also der Macht des Strafrechts, bis hin zu der brillant formulierten, freiwilligen individuellen Höflichkeit und ziviler Stärke. Sie können Stärke haben, wie mir selbst aus der Schilderung eines Fahrers, der mich bei meinen jährlichen Washington-Besuchen begleitete, deutlich wurde. Vince wurde von einem Polizisten geradezu angeschnauzt, weil er kurz am Bürgersteig gehalten hatte. Er blieb ganz ruhig, antwortete fünfmal hintereinander mit „Yes Sir“, bis der Polizist seinen Ton mäßigte, resignierte und Vince ungezwungen weiterfahren konnte. „I killed him friendly“, sagte er mir in Zusammenfassung dieses Erlebnisses.
Wenn wir lernen, alle möglichen menschlichen Unterschiede, echte wie eingebildete, offen zu artikulieren, ohne handgreiflich zu werden, befinden wir uns auf bestem Weg, als gute Nachbarn in dieser Welt zu leben – das ist Garton Ashs kurze und bündige Alltagsvernunft.
Sein Wissen und seine Kenntnis über die technischen kommuni-kativen Möglichkeiten, die Bedeutung des Zugangs zum Internet nimmt ihm – trotz vieler Seiten, die er darüber schreibt – nicht den Blick für die Sprache, die Schreib- und Lesefähigkeit. Sich in der eigenen Sprache frei äußern und hören, vor allem aber ausdrücken zu können, ist ihm ein wichtiger Grundsatz. Erst dann beginnt die Arbeit an der Fragestellung: Welche Formen der Meinungsäußerungen sind unter den veränderten Bedingungen der heutigen kommu-nikativen Möglichkeiten von Hass getragen oder stellen eine Gewaltandrohung dar: Es gibt gefährliche Reden und es gibt Versuche von verbalen Herabsetzungen bestimmter sozialer Gruppen. Es gibt Redner mit einem hohen Grad an Einfluss auf die Zuhörer, vor allem auf eine anfällige, leicht zu beeindruckende Zuhörerschaft, die kaum andere Informationsquellen hat und von Sorgen und Ängsten geplagt ist.
Sich etwas erklären zu können, so Garton Ash, bedeute aber noch nicht zu wissen, wie man ihm am besten zu Leibe rückt. Und der Versuch, nahezu alles zu kontrollieren, die Strafverfolgungsres-sourcen eines Staates einzusetzen, bedeutet, dass man sie bis an die äußersten Grenzen strapazieren muss.
Die Hate-Speech-Gesetzgebung, die ganzen rechtlichen Aktivi-täten gegenüber Fighting Words, wie Timothy Garton Ash sie bezeichnet, geht mehr und mehr von der Annahme aus, dass es verwundbare Minderheiten gibt, die stärker geschützt werden müssen.
Eine solche Gesetzgebung veranlasst nach seiner Ansicht allerdings auch mehr und mehr Menschen, sich eher beleidigt zu fühlen, dünnhäutig zu werden, anstatt etwas dickfälliger zu werden. Es gibt Führer von Gruppen, die ihren Anhang durch Forderungen nach Schutz durch ein neues Gesetz mobilisieren. Und es gibt Politiker, denen es leichter fällt, die Bekämpfung von Hassreden an Beamte oder Richter zu delegieren als die Unterstützung von Wählern zu riskieren, indem sie sich selbst an diesem Kampf beteiligen.
Es gibt eben selbst in reifen Demokratien mit einer extensiven Gesetzgebung gegen Hassreden nicht weniger Rassismus, Sexismus oder andere Arten von Vorurteilen als in Demokratien, die über keine oder nur wenige Hate-Speech-Gesetze verfügen.
Trotz seiner skeptischen Haltung schließt Timothy Garton Ash mit dem Gedanken ab, dass Gesetze gegen Hassreden schlicht und einfach als Ausdruck zentraler moralischer Standards des jeweiligen Staates und der jeweiligen Gesellschaft gerechtfertigt sind. Auch wenn sie nur schwer vollstreckt werden könnten, wenn nicht zu beweisen ist, dass sie Hassreden verhindern, sind sie für verwundbare Minderheiten ein Signal. Das ist aber kein abschließendes Urteil über ihre Wirksamkeit. Dieses setzt Zivilität voraus. Das heißt, eine Art des Umgangs, den die Mitglieder einer Gesellschaft pflegen. Sie ist eine kühle Tugend. Sie führt, so schreibt der Verfasser, direkt ins Herz einer endlosen Debatte über das innere Gleichgewicht einer liberalen, pluralistischen, offenen Gesellschaft. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen in ihr nicht gedemütigt werden. Damit kommen Tugenden von Achtung und Würde ins Spiel, die Timothy Garton Ash für unabdingbar hält. Wenn das Internet neben vielen anderen Dingen und vielen Möglichkeiten und Chancen für die, die es wirklich produktiv nutzen wollen, zugleich auch die „größte Kloake der Menschheitsgeschichte“ ist, muss gegen letztere die Gegenrede aus offenen Gesellschaften selbst deutlicher werden.
Wir werden uns nie alle einig sein, so beendet Garton Ash sein bemerkenswertes Buch, und wir sollten es auch nicht unbedingt sein müssen.
Wir müssen uns nur darum bemühen, Bedingungen zu schaffen, in denen Uneinigkeit gewaltfrei, stilsicher, anspruchsvoll in einer Debatte der Worte ausgedrückt werden kann. Diese Arbeit, so schließt der Träger des diesjährigen Karlspreises, hat gerade erst angefangen. Sein Buch kommt zur rechten Zeit. Es ist das Buch eines Liberalen, der keine arrogante Toleranz pflegt, für vieles offen ist, vieles verstehen will, aber nicht alles billigt.