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Theodor Heuss
„Demokratie als Lebensform“ – zum 140. Geburtstag von Theodor Heuss

Theodor Heuss

Theodor Heuss

Wie kaum ein anderer Politiker steht Theodor Heuss für den erfolgreichen Neuanfang der Demokratie nach dem nationalsozialistischen Regime und dem Zweiten Weltkrieg. Dafür stehen zum einen seine bedeutenden politischen Funktionen in der entstehenden Republik – im Parlamentarischen Rat, im organisierten Liberalismus und als Bundespräsident; zum anderen wirkte er aber auch in ideeller Weise prägend auf die politische Kultur von Staat und Gesellschaft. Natürlich konnte Heuss auf jahrzehntelange politische Erfahrungen zurückgreifen: Wie die meisten Akteure der unmittelbaren Nachkriegsjahre hatte er sich bereits im Kaiserreich und vor allem in der Weimarer Republik politische Meriten erworben – die Wiedererrichtung der Demokratie nach der Diktatur bedeutete mithin kein Neuland für den ehemaligen Reichstagsabgeordneten.

Im Sommer 1948 wurde Theodor Heuss vom Landtag Württemberg-Badens, dessen Mitglied er war, in den Parlamentarischen Rat gewählt. Dort gelang es ihm als Vorsitzender der FDP-Fraktion bei den Beratungen der neuen Verfassung – des vorsichtig als Provisorium bezeichneten Grundgesetzes – eine vermittelnde Position zwischen den beiden Lagern der SPD und der CDU/CSU einzunehmen. Wichtige Artikel, vor allem bei den Grundrechten, dem Staatsaufbau und der parlamentarischen Demokratie erhielten eine liberale Handschrift; ähnlich erfolgreich operierte Heuss beim Namen und den Nationalfarben der neuen Republik.

Eine vermittelnde, zugleich aber auch dezidierte Position nahm Heuss auch im liberalen Neugründungsprozess ein: Als Vorsitzender der Liberalen in der amerikanischen Zone gehörte er zunächst zusammen mit Wilhelm Külz aus der Sowjetischen Besatzungszone zu den Führungspersönlichkeiten des neu organisierten Liberalismus. Mit der offenbarer werdenden Spaltung in Deutschland trennten sich 1948 auch die Liberalen in Ost und West – und bei der Heppenheimer Gründungsversammlung der FDP im Dezember 1948 fiel Heuss die Führung zu. Diese behielt er allerdings nur den knappen Zeitraum bis zur Wahl zum Bundespräsidenten im September 1949. Als Parteivorsitzender in diesen Monaten war er nicht unangefochten; dies hatte allerdings weniger mit seiner Person zu tun, als mit den traditionell zerstrittenen Liberalen zwischen nationaler und linksliberaler, sozialer Orientierung. Heuss gelang es, beide Flügel zusammenzuhalten – und damit erstmals in der Geschichte des politischen Liberalismus die heterogenen Gruppen und ihre die Unabhängigkeit liebenden Delegierten in einer Partei einzubinden. Noch in Heppenheim gab Heuss dem schwierigen Gründungsprozess mit treffenden Worten eine ideelle Basis: Die FDP solle eine Partei für den „lebendigen Menschen sein, der nicht Opfer der Apparatur geworden ist und auch nicht bloßes Glied der Apparatur sein will, der die innere Entscheidung für den eigenen Lebensweg erhalten und nicht verlieren möchte.“

Bundespräsident im Gründungsjahrzehnt der Bundesrepublik

Als Bundespräsident im Gründungsjahrzehnt der Bundesrepublik, mit zwei Amtszeiten von 1949 bis 1959, gelang ihm, die Funktion nicht nur persönlich zu prägen, sondern das Amt auch in einer bedeutenden, eigenständigen Rolle neben der Exekutive des Bundeskanzlers zu etablieren. Beim Amtsantritt 1949 stellte er sein „Regierungsprogramm“ unter das Motto: „Entkrampfung“, es gehe um demokratisches Bewusstsein und Selbstachtung. Sicher halfen ihm seine bildungsbürgerlich-liberale und zugleich joviale Amtsführung – in der Bevölkerung popularisiert als „Papa Heuss“ – dabei, der politischen Kultur eine ordentliche Prise Gemeinschaft stiftender Wirkung beizugeben.

Erfolgreich gestaltete Heuss mit dem ihm eigenen Politikstil und seinem geschichtspolitischen Deutungsanspruch den „Bundespräsidenten“ zu einer moralischen Instanz aus. Entgegen kam Heuss, dass er in seinem Werdegang nicht nur Politiker und ehemaliger württembergischer Kult(us)minister war, sondern ebenso – oder noch viel mehr – Publizist und Journalist. Als politischer Bildner bedeutete für ihn schon in den 1920er Jahren die Demokratie „im Elementaren die Anerkennung eines freien Menschentums, das auch im Gegner den Partner sieht, den Mitspieler“.

Berliner Schloss Bellevue

Am 18. Juni 1959 wurde das Berliner Schloss Bellevue als zweiter Amtssitz des Bundespräsidenten an den amtierenden Amtsinhaber Theodor Heuss übergeben

© picture-alliance / dpa | Bratke

Herkunft und Familie

Im nordwürttembergischen Brackenheim 1884 geboren – mithin im gleichen Jahr, in dem einer der standhaften und prägenden Verfassungsliberalen des frühen Kaiserreichs, Eduard Lasker, verstarb – wurzelte Heuss in den politischen Traditionen seiner Familie: Die Vorfahren hatten 1848 in der liberalen-demokratischen Revolution gekämpft, der Vater gehörte der schwäbischen Volkspartei an. Der Sohn wendete sich nun dem charismatischen Friedrich Naumann zu, wechselte mit ihm 1903 vom National-Sozialen Verein zum linksliberalen Freisinn. Heuss schloss sich dem sozialliberalen Kreis um Naumann an, redigierte dessen Zeitschrift „Die Hilfe“, für die er auch zahlreiche Artikel schrieb. Und mehr noch – er blieb ihm über dessen frühen Tod 1919 verbunden, sorgte nun für das Fortwirken der Naumannschen Deutung des Liberalismus. Heuss spann somit den Bogen eines wertorientierten sozialen und freiheitlichen Liberalismus in moderner Prägung von der Weimarer Republik in die Bundesrepublik. Nicht zuletzt die 1958 mit Unterstützung von Theodor Heuss gegründete Friedrich-Naumann-Stiftung zeugt von dieser ideellen Anbindung.

Weimarer Republik und NS-Zeit

In der Weimarer Republik gehörte Heuss zu den Mitgründern der linksliberalen DDP, war Reichstagsabgeordneter von 1924 bis zum Ende der Demokratie 1933. Zugleich lehrt er an der – auf Naumanns Ideen zurückgehenden – Berliner Hochschule für Politik. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erhielt er ein Lehrverbot – kein Wunder, hatte Heuss doch eindeutig in Reden und warnenden Schriften klarsichtig vor der NS-Bewegung gewarnt. Als einer der ersten hatte Heuss den Aufstieg Hitlers und dessen Ideologie analysiert – eine bis heute lesenswerte Studie („Hitlers Weg”, 1932). Dennoch beugte er sich 1933 der Mehrheit seiner Parlamentsfraktion bei der Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz”. Deren Hoffnung, mit der Wahrung der Legalität den Terror mäßigen zu können, unterschätzte die neuartige Radikalität der nationalsozialistischen Bewegung. Noch 1933 verlor Heuss seine Ämter und Mandate, mehrere seiner Bücher wurden verbrannt.

In seiner prägenden Rolle als Bundespräsident nahm Heuss den Umgang mit der Geschichte ernst und etablierte einen ersten historischen Deutungsrahmen für die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit – gegen alle zeitgenössische Beschwichtigung und ein verbreitetes Beschweigen. Gegen die „Schlussstrichmentalität“ entwickelte und verteidigte er den Begriff der „Kollektivscham“, den er im Dezember 1949 in einer Ansprache bei der christlich-jüdischen Gesellschaft der deutschen Öffentlichkeit mit den Worten ins Gewissen rief: „Es hat keinen Sinn, um die Dinge herumzureden. Das teuflische Unrecht, das sich an dem jüdischen Volk vollzogen hat, muss zur Sprache gebracht werden.“

Demokratie als Lebensform

Die Notwendigkeit, sich der eigenen Geschichte zu stellen, war für Heuss konstitutiver Teil der von ihm leidenschaftlich verkörperten „Demokratie als Lebensform“. Dazu gehörte auch der Impetus, mit dem sich Heuss 1948 dem Jahrestag der Revolution von 1848 näherte – ein Jubiläum, das mit heftigsten ideologischen Kämpfen zwischen Ost und West verknüpft war. Was 1848 „auf der Tagesordnung der Geschichte“ stand und „unerledigt“ geblieben sei, müsse jetzt, so Heuss, vollendet werden: der „Kampf um die verfassungsrechtliche Struktur einer deutschen Einheit und um die Ausgestaltung der staatsbürgerlichen Freiheitsrechte“. Und zum Kernstück dieses Auftrags erklärte er den „Willen zur demokratischen Selbstgestaltung der Nation in freier Verantwortung der besten Männer und Frauen“. Es müsse endlich gelingen, den Deutschen die „Angst vor dem Atem der Freiheit“ zu nehmen.

Theodor Heuss sei, so würdigte Thomas Dehler einmal den Parteifreund und Staatsmann, ein „Sinnbild unverzagter und verantwortungsbewusster Liberalität“. Um das Staatsverständnis der jungen Bundesrepublik und ihre demokratische Lebensform machte sich der vor 140 Jahren geborene Heuss damit unzweifelhaft verdient.