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Deutsche Einheit
Meilenstein auf dem Weg zur Freiheit: Genschers „Balkonrede“ 1989 schlug eine Bresche in den Eisernen Vorhang

Hans-Dietrich Genscher neben dem Gedenkstein auf dem Balkon  der Prager Botschaft

Fast gingen die drei entscheidenden Worte im unbeschreiblichen Jubel der Menschen unter – dass Ihre Ausreise heute „... möglich geworden ist“. Was Außenminister Hans-Dietrich Genscher am Abend des 30. September 1989 vom Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag verkündete, bedeutete Freiheit und Selbstbestimmung für die über 5.000 auf dem Gelände notdürftig untergebrachten Flüchtlinge aus der DDR. Selten wurde mit so wenigen Worten so viel bewegt: Sie schlugen eine Bresche in den mit Mauer und Stacheldraht gesicherten „Eisernen Vorhang“, der Deutschland und Europa teilte. Noch in der gleichen Nacht sowie in den nächsten Tagen passierten die Züge mit den befreiten Menschen auf ihrer Fahrt in den Westen Dresden und Plauen – und nur mit Mühe konnte die Staatsmacht die Menschen an den weiträumig abgesperrten Bahnhöfen am Aufspringen auf die Züge hindern.

Hans-Dietrich Genscher

Die westdeutsche Botschaft in Prag am 30. September 1989 während der Ansprache des damaligen Bundesaussenministers Hans-Dietrich Genscher 

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Anonymous

Seit Monaten hatte es sich zugespitzt: Im Juni waren es erst 40 gewesen, dann Anfang September bereits 500, und schließlich kamen Tag für Tag Hunderte Menschen, kletterten über Absperrungen und Zäune, hoben Kinder und Kinderwagen darüber – mit dem Mut der Verzweiflung und dem einen Ziel: den Garten des Palais zu erreichen, hier in der westdeutschen Botschaft war exterritoriales Gelände, von hier konnten sie nicht verschleppt oder in die DDR zurückgebracht werden. Am Ende waren es Tausende, die in Zelten, in den engen Räumen und Matratzenlagern im Keller ausharrten – unhaltbare Zustände vor allem für die vielen jungen Familien mit Kindern. Überfüllt waren auch die Botschaften der Bundesrepublik in Warschau und Budapest.

Der Mann auf dem Balkon

Lars-André Richter. Projektleiter Mitteleuropa und Baltische Staaten

Hans-Dietrich Genschers Auftritt auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 gehört zu den prägenden Momenten der deutschen und europäischen Geschichte. Inmitten chaotischer Umstände verkündete er die erlösende Botschaft: Tausende DDR-Bürger durften in den Westen ausreisen. Anlässlich des 35. Jahrestags dieser historischen Szene veranstaltete die Botschaft ein "Fest der Freiheit", bei dem Zeitzeugen und politische Akteure an die dramatischen Ereignisse erinnerten. Genschers Worte und die Freiheitsbewegungen in ganz Osteuropa ebneten den Weg für den Mauerfall und die Deutsche Einheit.

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Entkommen vor Perspektivlosigkeit

Kein Wunder, denn die Hoffnung auf Liberalisierung und frischen Wind in der DDR in den 1980er Jahren war vergeblich gewesen. Der DDR-Chefideologe Kurt Hager etwa hatte 1987 jede Notwendigkeit zur Veränderung zurückgewiesen – nur weil der Nachbar neu tapeziere, so Hager über Michail Gorbatschows Erneuerungsprozess der Perestroika und Glasnost, müsse man seine eigene Wohnung nicht auch renovieren. Und im November 1988 wurde gar der Vertrieb der populären reformorientierten sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR untersagt.

Dieser Perspektivlosigkeit versuchten immer mehr Menschen zu entkommen, wollten ausreisen oder flüchteten eben in die Botschaften in Prag, Warschau, Budapest und Ost-Berlin. Im August 1989 nutzten Hunderte die kurzzeitige Grenzöffnung beim „Paneuropäischen Picknick“ im ungarischen Sopron zur Flucht nach Österreich – die größte Fluchtbewegung aus der DDR seit dem Bau der Mauer.

Ein Mahl unter freiem Himmel für Europas Einheit

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l) und Tamas Sulyok, Präsidenten der Republik Ungarn, sitzen vor dem Beginn eines Gesprächs anlässlich des 35. Jahrestags des Paneuropäischen Picknicks nebeneinander.

Heute jährt sich zum 35. Mal das Paneuropäische Picknick, ein Ereignis, das als entscheidender Schritt auf dem Weg zum Fall des Eisernen Vorhangs und zur Wiedervereinigung Europas gilt. Das Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze bot hunderten DDR-Bürgern die Gelegenheit zur Flucht in den Westen. Dieses historische Ereignis markierte nicht nur den Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa, sondern erinnert uns auch heute daran, welche Kraft kollektives Handeln für Freiheit und Demokratie haben kann.

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Und der Eiserne Vorhang wurde noch löchriger, als Ungarn einen Monat später die Grenze dauerhaft öffnete. Bald säumten zahllose zurückgelassene Trabbis den Weg zur Grenze. „Die Flüchtlinge haben“, so Hans-Dietrich Genscher „ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und damit Geschichte geschrieben. Sie haben das Tor zur Freiheit nicht nur für sich selbst geöffnet.“

Flucht und Ausreise haben die DDR von Anfang an geprägt. Mit dem Aufbau des Sozialismus seit den 50er Jahren hatte ein Exodus vor allem junger sowie gut ausgebildeter Menschen eingesetzt, der sich nach der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 noch verstärkte.

„Wir wollen freie Menschen sein!“

Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953. Demonstration in Magdeburg

Am 17. Juni 1953 erhoben sich die Menschen in der DDR gegen das SED-Regime. Der Ruf nach Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung wurde laut: Hunderttausende gingen auf die Straße, forderten die Ablösung der SED-Herrschaft sowie freie Wahlen. Doch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands reagierte mit Unterdrückung und Willkür. Umso wichtiger ist es, an den Mut der Menschen zu erinnern und die Aufklärung über die SED-Diktatur voranzubringen.

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Der Mauerbau 1961 stoppte den Strom gewaltsam, fortan blieben nur die Flucht bei Lebensgefahr oder der Ausreiseantrag, der Schikanen und Repression nicht nur für einen selbst, sondern auch für die Familie nach sich zog. Auch kurzzeitige Lockerungen änderten nichts, wie etwa 1984, als die DDR das Loyalitätsproblem mit der Bewilligung der vorliegenden Ausreiseanträge lösen wollte und 40.000 Bürger übersiedelten. Doch kurz danach lagen bereits wieder mehr als 50.000 neue Anträge vor. Diesen Menschen werde er „keine Träne nachweinen“, verkündete der DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Chef Erich Honecker im Sommer 1989 – und trieb damit die Flucht- und Protestbewegung nur weiter an. Bis zur Währungsunion mit der Bundesrepublik Anfang Juli 1990 sollten noch über 340.000 Menschen die DDR verlassen – ein „Brain Drain“ mit Wirkung bis heute.

Genschers „Balkonrede“: Ein diplomatischer Triumph

Mit der „Balkonrede“ Genschers und dem dramatischen Geschehen im Hof der Prager Botschaft vollzog sich auch eine Sternstunde der Diplomatie: Die Ankündigung der Ausreise bildete den erfolgreichen Schlusspunkt in einem schwierigen diplomatischen Tauziehen, bei dem viel auf dem Spiel stand: Nach der ersten Flüchtlingswelle waren die Löcher in der Grenze zwischen Ost und West auf Geheiß der DDR-Führung geschlossen worden. Die SED-Spitze wollte die anstehenden Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung ungestört begehen und verfolgte wieder eine harte Linie. Da reiste Genscher – obwohl aufgrund eines wenige Wochen zuvor erlittenen Herzinfarkts erkrankt – im September in die Hauptstädte, nutzte die jährliche UNO-Vollversammlung in New York und führte zahlreiche Gespräche mit seinen Amtskollegen aus Ost und West. Und dank der Vermittlung des reformwilligen sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse traf endlich das erlösende Signal aus Ost-Berlin ein, die Flüchtlinge ausreisen zu lassen.

Möglich wurde dies nur durch das besondere Vertrauen, das Hans-Dietrich Genscher in jahrelangem außenpolitischen Wirken für die Bundesrepublik gewonnen hatte. Menschenrechte, Selbstbestimmung und Vertrauensbildung gehörten für Genscher zu den Kernelementen liberaler Außenpolitik. Das Atlantische Bündnis und eine sich enger zusammenschließende Europäische Gemeinschaft galten ihm als unverzichtbare Voraussetzung für eine Friedensordnung in ganz Europa. Nur in Verbindung mit einem Ende der Teilung Europas werde auch die deutsche Frage gelöst – dieses Credo liberaler Deutschlandpolitik bewahrheitete sich in dem kurzen Zeitraum zwischen Mauerfall und Vereinigung, vom 2+4-Vertrag 1990 bis zum deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag.

„Was 1989 geschah, war in Wahrheit eine europäische Freiheitsrevolution. Das kostbare Erbe jener Jahre“, mahnte Genscher, verpflichtet uns, die liberale Demokratie – elementare Menschenrechte, Freiheit und Rechtsstaat – über alle Grenzen hinweg zu verteidigen. Diese Forderung ist besonders aktuell, wenn – wie derzeit durch den russischen Angriff auf die Ukraine – der europäische Konsens über die Werte einer menschenwürdigen Gesellschaft in Frage gestellt wird.

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  • Ansprache des Bundesministers Genscher vom Balkon der Botschaft in Prag an die im Hof versammelten Botschaftsflüchtlinge aus der DDR, 30. September 1989.

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