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EU-Migrationsgipfel
EU-Sondergipfel: Herausforderungen für die europäische Migrationspolitik

Olaf Scholz

Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler, aufgenommen im Rahmen seiner Regierungserklaerung im Deutschen Bundestag vor dem ausserordentlichen EU-Rat

© picture alliance / photothek | Florian Gaertner

freiheit.org: Auf der außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates sollen insbesondere zentrale Migrationsfragen und Schritte zur Fertigstellung des Neuen Pakts zu Migration und Asyl behandelt werden. Welches sind in diesem Zusammenhang die dringendsten migrationspolitischen Themen, die auf der Agenda stehen sollten?

Xavier Aragall: Die Verwaltung der Einreise von Menschen in die EU ist nach wie vor das Hauptproblem. Wir sind in der EU noch weit davon entfernt, die Einreise effizient und kohärent zu regeln. Hierbei geht vor allem darum, die beiden Arten von Migrationsbewegungen, nämlich die der irregulären Einreise über das Mittelmeer auf der einen sowie die Bearbeitung von Asylanträgen auf der anderen Seite entsprechend zielgerichtet zu behandeln. In beiden Fällen gibt es Interessenkonflikte zwischen den südlichen EU-Ländern (Spanien, Italien, Griechenland, Malta und Zypern) und den nördlichen und mitteleuropäischen Ländern (skandinavische Länder, Niederlande, Österreich). Einige Staaten, die an der EU-Grenze liegen, können die wachsende Anzahl von Menschen an ihren Küsten und in ihren Häfen nicht bewältigen und fordern einen Solidaritätsmechanismus zur Umverteilung von Einwanderern und Asylbewerbern.

Andererseits besteht angesichts der demografischen Entwicklung in der EU die Notwendigkeit, einen offenen Kanal für die Arbeitsmigration aufrechtzuerhalten, um auf die wachsende Nachfrage nach bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes zu reagieren, die kurz- oder mittelfristig aus der Bevölkerung der EU nicht bedient werden kann. In diesem Sinne sah der Migrationspakt der EU-Kommission aus dem Jahr 2020 vor, mit den Herkunftsländern konzertiert zusammenzuarbeiten (Migrationspartnerschaften), um eine geordnete Zuwanderung bestimmter Berufsprofile zu organisieren, ohne dass sich diese negativ auf das Herkunftsland („Brain-drain“) auswirkt.

Schließlich sollten die Maßnahmen, die darauf abzielen, die Zuwanderung von Menschen zu begrenzen, überdacht werden. Einerseits werden Ausweisungsanordnungen nur teilweise vollstreckt (weniger als ein Viertel der Anordnungen), so dass sich immer mehr Menschen im EU-Gebiet in einer rechtlichen Notlage befinden. Andererseits muss der Umgang mit Such- und Rettungsaktionen auf See (SAR-Operationen) überdacht werden. Weder die strafrechtliche Verfolgung von Seenotrettungs-NGOs noch die Verweigerung der Hafeneinfahrt sind eine Antwort, die den Gründungsprinzipien der Europäischen Union entspricht.

In den kommenden Monaten wird FNF Madrid gemeinsam mit IEMed die Ergebnisse einer Studie zum Zusammenhang von Klimawandel und Migration in der Sahelzone, Westafrika und dem Maghreb vorstellen. Welches sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Schlussfolgerungen, die in der Debatte über die Migrationsfrage berücksichtigt werden sollten?

Erstens möchte ich betonen, dass der Klimawandel zwar die bestehenden Migrationsströme (die meisten davon innerhalb Afrikas) verändern wird, es aber noch nicht möglich ist, mit Sicherheit zu sagen, welche langfristigen Auswirkungen dieser auf die Bevölkerung in den betreffenden Staaten an sich und in der Folge auf mögliche neue Migrationsströme haben könnte.

Die aktuellen Prognosen zum Klimawandel lassen bereits vermuten, dass der Klimawandel je nach geografischem und sozioökonomischem Kontext spezifische Auswirkungen haben wird. In Nordafrika wird das Risiko der Wasserknappheit sowohl ländliche als auch städtische Gebiete betreffen; in der Sahelzone konzentriert sich das Problem auf die Auswirkung auf den Arbeitsmarkt, da eine große Anzahl der Einwohner Tätigkeiten nachgeht (Lebensmittelproduktion etc.), die sehr empfindlich auf den Klimawandel reagieren. In Westafrika wird der Klimawandel als Risikomultiplikator gesehen, der sich auf bestehende Risiken wie die Konzentration der Bevölkerung in den Städten, die Erosion der Meeresküste und die Versteppung von Ackerland auswirken wird.

Was ist ihrer Meinung nach ein relevanter Aspekt, der in den aktuellen Migrationsdebatten mehr beachtet werden sollte?

Die wichtigste Push-Faktor für die Auswanderung aus Afrika ist der Mangel an Zukunftsperspektiven, insbesondere für junge Menschen, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und für die kein ausreichender Arbeitsmarkt existiert. Ebenso mangelt es eindeutig an Wissen über die wirtschaftliche und soziale Realität mit Blick auf Lebensbedingungen und den Arbeitsmarkt, die sie im Zielland vorfinden werden.

Im Rahmen des Mittelmeerdialog-Projekts der Friedrich-Naumann-Stiftung hat das Madrider Büro angesichts der vielfältigen Herausforderungen der Migrationssteuerung im Mittelmeerraum die Migration Policy Group ins Leben gerufen, ein Zusammenschluss liberaler politischer Entscheidungsträger und Experten, um politische Maßnahmen zu Migrationsfragen europäisch abzustimmen und voranzutreiben.

Xavier Aragall ist Koordinator der Migrationsprogramme, Mitglied des wissenschaftlichen Teams der Euromed-Umfrage (2010-2019) und ist derzeit EuroMeSCo-Beauftragter für Migration und Umfrage, zuständig für die Koordination der Außeneinsätze, die Gestaltung der Fragebögen und die quantitative Analyse der Ergebnisse beim Europäischen Institut für den Mittelmeerraum (IEMed)