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Freiheit braucht führungsstarke Digitalpolitik
Als Xi Jinping und Wladimir Putin im Februar 2022 zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Peking ein gemeinsames Statement veröffentlichten, ging eine Passage in der deutschen Berichterstattung vollkommen unter: Die beiden autoritären Herrscher wollten nicht nur eine bessere Kooperation und strategische Partnerschaft in der Bewältigung von globalen Problemen und in Sicherheitsfragen. Sie bekundeten auch ihre Absicht, künftig ihre Zusammenarbeit bei Fragen der Digitalpolitik zu intensivieren. Sie forderten eine neue “Internationalisierung” der Internet Governance. Hinter dieser Aussage verstecken sich Vorhaben zur Stärkung von staatlichen Kompetenzen in Gremien wie der Internationalen Fernmeldeunion (ITU), die darauf abzielen, das Internet und seine Strukturen stärker zu kontrollieren.
Geopolitik findet auch im digitalen Raum statt. Die politische Dimension des globalen Internets wird in Deutschland auch noch im zehnten Jahr nach Angela Merkels “Neuland”-Äußerung deutlich unterschätzt. Die deutsche Politik muss den Systemwettbewerb im digitalen Raum ernst nehmen und in ihren Entscheidungen und Strategien berücksichtigen. Die Souveränität Europas und liberaler Demokratien im Allgemeinen hängt im digitalen Zeitalter von einem freien, offenen und globalen Internet ab. Daher ist es wichtig, dass in Politik und Öffentlichkeit stärker über die geopolitische Dimension des Digitalen gesprochen wird und Bestrebungen wie die von Xi und Putin ebenso ernst genommen werden wie ihre strategischen Vorhaben im Bereich der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik.
Ein offenes und freies Internet ist für eine liberale Weltordnung unerlässlich. Die Grundsätze der Demokratie, des freien Handels und der Rechtsstaatlichkeit, die sich darauf stützen, können nur aufrechterhalten werden, wenn die freie Meinungsäußerung, der Austausch von Ideen und der Zugang zu Informationen auch in der digitalen Welt gewährleistet sind. Internationale Institutionen und Normen sind ebenfalls fundamental für eine liberale Weltordnung und spielen eine große Rolle bei der Wahrung der Internetfreiheit. Autokratische Staaten verwehren diese Prinzipien definitionsgemäß. Chinas „Große Firewall“ ist zu einem Modell für Autokratien geworden – und für Staaten auf dem Weg dorthin. Freiheit braucht daher eine führungsstarke Digitalpolitik.
Es mag widersprüchlich klingen, doch Deutschland ist bereits ein wichtiger und angesehener Akteur in Institutionen der Vereinten Nationen (VN) wie der ITU oder dem von den VN mandatierten Internet-Governance-Forum (IGF). Beides sind Institutionen, in denen Standards und Normen für das Internet festgelegt werden. In der ITU stimmen Staaten über vorgelegte Vorschläge ab, im IGF, einem Multi-Stakeholder-Forum, bei dem neben staatlichen Vertretern auch die Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft vertreten sind, legt man sich im Konsens auf Standards fest. Beide Institutionen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Aspekten der Internet Governance. Seit Jahren versuchen China und Russland Zuständigkeiten zur ITU zu verlagern, da sie hierüber stärker staatlichen Einfluss ausüben können.
Deutschland engagiert sich – still und leise, aber erfolgreich. 2019 richtete die Bundesregierung sogar das IGF in Berlin aus und durch das Engagement von deutschen Parlamentariern wie dem verstorbenen Abgeordneten Jimmy Schulz (FDP) wurde erstmalig das Engagement von Parlamenten in der Internet Governance verstärkt. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung und auch die Digitalstrategie des Bundes zeigen außerdem einen zarten Bedeutungszuwachs der internationalen Digitalpolitik. Angesichts der geopolitischen Herausforderungen muss das Engagement in diesem Politikfeld deutlich größer werden.
Internet als liberales Freiheitsversprechen
Das Internet, das wir seit den 1990er-Jahren kennen, wurde bewusst offen und dezentral angelegt. Es war das liberale Freiheitsversprechen, das es Menschen ermöglichen sollte, sich frei miteinander zu vernetzen und auszutauschen. Jeder soll partizipieren und ein Teil des Netzes der Netze werden können. Offene Protokolle und Standards, auf denen das Internet bis heute basiert, machen es möglich. Die ersten Internet-Aktivsten traten schon früh gegen staatlichen Einfluss, das heißt, die Regulierung des Netzes, ein. Es sollte ein von staatlicher Macht unabhängiger Ort der Freiheit sein.
Das Internet funktioniert allerdings nicht ohne physische Infrastruktur. Diese unterliegt allein durch ihr Vorhandensein auf dem Gebiet eines Staates, dessen Hoheit und regulatorischem Zugriff. Auch der Ort, an dem früher das Domain-Name-System (DNS) verwaltet wurde – das Telefonbuch des Internets – befindet sich an einem physischen Ort: Die Internet Assigned Numbers Authority (IANA) war ursprünglich eine dem US-Verteidigungsministerium zugeordnete Behörde und zuständig für die Zuordnung von IP-Adresse zu für Menschen einfacher zu handhabbaren URLs wie www.zeitung.de. Später wurde diese Aufgabe der ICANN, der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers übertragen, um der Aufgabe, dieses Telefonbuch zu verwalten, einen unabhängigeren institutionellen Rahmen zu geben. Sie hat ihren Sitz seit jeher in den USA und unterliegt daher der amerikanischen Jurisdiktion.
Mit der Gründung der ICANN setzten die USA Ende der 1990er-Jahre eine nicht-staatliche Institution durch, die Teile des Internets verwalten sollte. Auch damals gab es Bestrebungen, diese Aufgabe der ITU zuzuweisen und damit staatlicher Kontrolle zu unterstellen. Die USA manifestierten so ihre Vorstellung einer liberalen Ordnung, die bis heute Grundlage der internationalen Internet Governance ist. Auch wenn sich die USA immer zu einem freiheitlichen und offenen Welthandel bekannten, nutzen sie die privatwirtschaftliche Öffnung des Internets, um eigene Unternehmen zu fördern. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die heute existierenden großen Plattformen, die das Internet prägen und teils bestimmen, vor allem amerikanische sind.
Das Ideal eines globalen, offenen und freien Internets ist auch heute noch der normative Rahmen, nach dem viele streben. Allen voran eine engagierte Zivilgesellschaft. Jegliche Fragmentierung des Internets wird als Verlust von Freiheitsräumen verstanden. Wer einen Blick nach China und hinter die “Große Firewall” wirft, versteht, was diese befürchtete Einschränkung bedeutet. Die chinesische Regierung kontrolliert, auf welche Webseiten die Chinesinnen und Chinesen zugreifen und was sie im Internet oder auf Messenger Plattformen wie WeChat äußern dürfen. Auch Russland strebt solch ein abgeschottetes, “souveränes” Internet an und will den Datenverkehr an physischen Knotenpunkten kontrollieren. Dass es Putin nicht so gelingt wie seinem Partner Xi liegt daran, dass China sich bereits kurz nach der Jahrtausendwende aufmachte, das Internet abzuschotten. Etwas, das der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton noch im Jahr 2000 für so unmöglich hielt, “wie Pudding an eine Wand zu nageln”.
Im europäischen Internet gelten mit dem Digital Services Act (DSA) bald andere Regeln als im Rest der Welt
Mit einem Winke-Emoji sprach EU-Kommissar Thierry Breton im Oktober 2022 Elon Musk auf Twitter an, kurz nachdem dieser die Plattform gekauft hatte. In Europa wird der Vogel (gemeint ist Twitter) nach unseren europäischen Regeln fliegen, sagte der Kommissar. Im europäischen Internet gelten mit dem Digital Services Act (DSA) bald also andere Regeln als im Rest der Welt. Deutschland war mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) Inspiration und Vorbild für den europäischen DSA, der zum Glück nicht die Probleme des NetzDG übernahm. Beides sind Gesetze, mit denen versucht wurde durchzusetzen, dass in “unserem” Internet auch unsere Regeln gelten. Ist das nicht eine Fragmentierung des Internets und eine Entfernung vom Ideal eines globalen, offenen und freien Internets?
Das Freiheitsideal des Internets ist nicht einzuhalten. Für Anhänger der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats kann dies auch nie das Ideal gewesen sein. Noch heute wird vielen Internet-Aktivisten unterstellt, dass sie genau dieses Ideal weiterhin anstreben und jegliche Regulierung des Internets verhindern wollen. Dabei ist dies für den allergrößten Teil nicht der Fall. Doch was ist dann dieses globale, offene und freie Ideal des Internets, das angestrebt wird, wenn doch eine Fragmentierung durch Regulierung des Internets für ein Rechtsgebiet dem Ideal eigentlich widersprechen müsste?
Die Debatte um die globale digitale Ordnung und damit eine etwaige Fragmentierung ist für die beiden Wissenschaftler Julia Pohle und Daniel Voelsen vielstimmig und in einem gewissen Maße auch widersprüchlich. Man müsse, um der Komplexität der Fragmentierungs-Debatte gerecht zu werden, den Begriff detaillierter betrachten und zwischen drei Formen unterscheiden. Dazu gebe es einen konzeptionellen Vorschlag zur Unterscheidung auf drei Ebenen: die Fragmentierung auf technischer Ebene, also der Infrastruktur, die staatlich getriebene Fragmentierung durch gesetzliche Vorgaben sowie die kommerzielle Fragmentierung durch Unternehmen zum Beispiel durch geschlossene Plattformen.
Die Freiheit des Internets hängt also noch von einem weiteren Akteur ab: den multinationalen Big Tech-Unternehmen.
Unternehmen spielen in internationaler Politik eine erhebliche Rolle
Es ist nicht neu, dass Unternehmen so viel Macht haben, dass sie in der internationalen Politik eine erhebliche Rolle spielen. Die East India Company war beispielsweise im 18. Jahrhundert nicht nur ein monopolistisches Handelsunternehmen, sondern vertrat auch die politischen Belange für das britische Empire. Ihm wurde zudem die Militärmacht übertragen, die sie mittels Privatarmeen auf dem indischen Subkontinent ausübte. Ebenso ist es seit jeher nicht unüblich, dass Unternehmen eine Rolle in der Bereitstellung von elementaren Gütern für die Gesellschaft spielten. Im Bereich der nationalen Sicherheit sind Regierungen häufig von privatwirtschaftlichen Unternehmen wie Rüstungskonzernen abhängig.
Neu ist, dass es heute zum Beispiel lediglich vier Konzerne gibt – Alibaba, Amazon, Google und Microsoft –, die den Großteil der weltweit benötigen Cloud-Kapazitäten zur Verfügung stellen. Die Datenverarbeitungen, die auf diesen Hyperscalern erfolgen, sind die Grundlage für elementare Leistungen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die Macht, die oligopolartige Unternehmen wie diese heute haben, ist also weitaus umfassender, fundamentaler und weniger regional begrenzt. Hieran zeigt sich, was digitale Souveränität für liberale Demokratien bedeuten muss: Es muss die Möglichkeit des Wechsels eines Anbieters bestehen, eine Vielfalt von Anbietern vorhanden sein und die entsprechende Fähigkeit und Macht besessen werden, Einfluss gegenüber einem Anbieter auszuüben.
Aufgrund zahlreicher Abhängigkeiten gegenüber privatwirtschaftlichen Unternehmen ist die digitale Souveränität vieler Staaten heute stark gefährdet. Häufig in Bereichen, die nicht nur kritisch sind, sondern auch noch zu wenig Beachtung in der öffentlichen und politischen Diskussion finden.
Mit SpaceX betreibt Elon Musk eine von wenigen erdnahen Satellitenkonstellationen – Starlink –, die einen Zugang zum Internet bereitstellen können. Auch Amazon hat ein vielversprechendes Unternehmen gegründet, das Internet aus dem Weltall anbietet. Dazu kommen Anbieter aus Kanada, Großbritannien und natürlich China.
Anbieten können wir Europäer das Internet aus dem Weltall über eigene Satelliten noch nicht. Die Europäische Kommission plant allerdings eine eigene Konstellation aufzubauen. Es war daher Elon Musk, den der ukrainische Digitalminister Mykhailo Fedorov öffentlich auf Twitter anschrieb, um ihn um Zugang zum Internet im Kriegsgebiet zu bitten. Ebenso war es Musks Starlink, das das Katastrophengebiet im Ahrtal nach der Überschwemmung mit einem Netzzugang versorgte. Mit einer eigenen europäischen Satellitenkonstellation könnte der revolutionäre Prozess in Iran durch freien Internetzugang unterstützt werden – das wäre ein handfester Beitrag für eine wertegeleitete und feministische Außenpolitik.
Private dürfen – und müssen sogar – elementare Güter für eine Gesellschaft bereitstellen, denn Staaten selbst sind alleine dazu nicht in der Lage. Wichtig für die Souveränität eines Landes und Europas ist aber die Wechselmöglichkeit und die Frage, welche Macht dieser Anbieter ausüben kann. Aktuell bestimmt Musk darüber, ob Starlinks Internetverbindung für die Steuerung ukrainischer Drohnen eingesetzt werden darf. Er hat sich dagegen entschieden.
Internet ist und bleibt ein Versprechen von Freiheit
Liberale Demokratien müssen Antworten auf illiberale und autoritäre Bestrebungen finden, die sich auf allen drei Ebenen der beschriebenen Fragmentierung abspielen, um das globale, offene und freie Internet in einem liberalen – das heißt rechtsstaatlichen und demokratischen Sinne – zu erhalten und zu stärken. Das ist notwendig, da es das Fundament für die liberale Weltordnung im 21. Jahrhundert darstellt.
Deutschland muss sein bisher eher stilles Engagement in den Gremien der internationalen Digitalpolitik ausbauen und verstärken. Die seit Jahrzehnten andauernden Bemühungen, die Regulierung des Internets auf staatlicher Ebene bei der ITU zu organisieren, sind immer noch aktuell, wie das Statement von Xi und Putin zu den Olympischen Spielen zeigt. Sie sind zwar bisher nicht erfolgreich und die infrastrukturellen Fragen werden weiterhin im Konsens zwischen Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gelöst. Aber in der ITU werden Standards für Technologien gesetzt, die Gesellschaften ebenso wie das Internet selbst prägen. 5G ist nur eine davon.
Da das Mandat der VN für das IGF 2025 ausläuft, sollte sich die Bundesregierung nicht nur für eine Verlängerung des Mandats einsetzen, sondern auch für eine Weiterentwicklung des IGFs, um die Effektivität des Multi-Stakeholder-Forums zu erhöhen. Das ICANN-Meeting, das im Herbst 2023 in Hamburg stattfinden wird und bei dem wichtige Entscheidungen zu den Kernfunktionen des Internets getroffen werden, sollte ein Auftakt für eine verstärkte und öffentlichere Rolle Deutschlands in der internationalen Digitalpolitik sein. Von ihm sollte außerdem das Signal ausgehen, dass man sich illiberalen Bestrebungen in der Internet Governance entgegenstellt.
Schließlich braucht es effektive Maßnahmen gegen die starke Machtkonzentration bei privaten Akteuren. Ein freier Markt und ein fairer Wettbewerb sind Grundlage der liberalen Wirtschaftsordnung. Mit dem Digital Markets Act (DMA) hat die Europäische Union bereits ein Gesetz verabschiedet, das den Wettbewerb stärken soll und besondere Anforderungen an Unternehmen stellt, die eine Gatekeeper-Funktion einnehmen. Auch menschenrechtliche Sorgfaltspflichten müssen im Digitalbereich stärker durchgesetzt werden, um Missbrauch zu reduzieren. Regulierung allein wird aber nicht ausreichen. Es braucht auch marktreifen digitale Produkte und Technologien.
Eine Strategie für internationale Digitalpolitik, die in diesem Jahr erarbeitet werden soll, muss ehrgeizig sein und die oben skizzierten Herausforderungen bewältigen. Wer glaubt, dass Deutschland erstmal seine Hausaufgaben in der nationalen Digitalpolitik machen sollte, verfehlt, welches Ansehen Deutschland in der Welt im Bereich der Internet Governance hat und welche Erwartungen hier von unseren Partnern an uns gestellt werden. Ebenso wird damit übersehen, dass in dieser digital vernetzten Welt alles mit allem zusammenhängt. Ein Einsatz für offene Standards – wie es die nationale Digitalstrategie vorsieht – hat nicht nur Auswirkungen auf der globalen Ebene, sondern auch ganz praktische bei der Digitalisierung der Verwaltung in den deutschen Kommunen.
Das Internet ist und bleibt ein Versprechen von Freiheit. Doch Freiheit gelingt nicht ohne Verantwortung. Es ist die Verantwortung liberaler Demokratien, sich im globalen digitalen Raum zu engagieren und eine Antwort auf den Systemwettbewerb zu liefern.
Ann Cathrin Riedel verantwortete die internationale Digitalpolitik der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Sie ist Vorsitzende des Vereins für liberale Netzpolitik LOAD e.V. und Mitglied im Beirat zur Umsetzung der Digitalstrategie Deutschlands.