Südkaukasus
Freiheit unter Beschuss?
Armenien, Aserbaidschan und Georgien – die drei Länder des Südkaukasus haben ganz unterschiedlich auf die Pandemie reagiert. Die Infektionszahlen unterscheiden sich gewaltig. Was hat Georgien richtiggemacht? Wie geht es mit der Lösung der innenpolitischen Probleme weiter? Und wie sieht es in den Nachbarländern Armenien und Aserbaidschan aus? Der Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Peter-Andreas Bochmann, fasst die Entwicklungen der letzten Monate zusammen.
Die aktuellen Corona-Fallzahlen illustrieren, wie unterschiedlich stark die drei Länder betroffen sind und wie sie auf die Pandemie reagiert haben:
- Armenien, 28.936 Infizierte, 491 Todesfälle (ca. 2,9 Millionen Einwohner);
- Aserbaidschan, 20.324 Infizierte, 250 Todesfälle (ca. 9,5 Millionen Einwohner);
- Georgien, 953 Infizierte, 15 Todesfälle (ca. 3,7 Millionen Einwohner).
(Stand 6. Juli 2020, Quelle: Johns Hopkins University, Coronavirus Resource Center)
Georgien hat die Corona-Krise bisher eindeutig am besten gemeistert. Auch im internationalen Vergleich hat kaum ein Land beim Umgang mit COVID-19 so effizient gehandelt, schnell Maßnahmen ergriffen und damit Infektionszahlen und Todesfälle auf einem extrem niedrigen Niveau gehalten. Das brachte dem Land auch international – einschließlich seitens der WHO – viel Lob ein. Mit den geringen Fallzahlen erscheint das Land wie eine Oase inmitten seiner viel stärker betroffenen Nachbarn. In einem von Forbes veröffentlichtem Ranking wird die georgische Hauptstadt Tiflis sogar als sicherste Stadt Europas für Reisen und Tourismus nach dem Corona-Virus bezeichnet. Und auch die Europäische Union listet Georgien als eines von 14 Nicht-EU-Ländern, deren Bürgerinnen und Bürger seit dem 1. Juli wieder einreisen dürfen.
Der erste Corona-Fall wurde in Georgien am 26. Februar gemeldet, da waren Flüge aus China bereits ausgesetzt. Es folgten die Einstellungen der Flugverbindungen nach Italien und Iran. Personen, die aus Risiko-Gebieten einreisten, mussten sich in Quarantäne begeben und schließlich wurden die Grenzen ganz geschlossen, alle Flugverbindungen eingestellt.
Schulen und Universitäten wurden Anfang März geschlossen und auch nicht vor September wieder öffnen. Die Personenbeförderung in Marschruttkas (eine Art Sammeltaxi) wurde verboten, die meisten Geschäfte mussten ihre Türen ebenfalls schließen. Einzige Ausnahmen: Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Tankstellen und Banken. Einige Orte und Landkreise mit identifizierten erhöhten sogenannten Infektions-Clustern wurden abgeriegelt. Am 21. März erklärte die georgische Präsidentin Salome Surabischwili den Ausnahmezustand. Zu diesem Zeitpunkt gab es im Land 48 bestätigte Corona-Fälle.
Es folgten weitere Maßnahmen innerhalb eines verschärften Ausnahmezustands:
- Eine landesweite Ausgangssperre von 21 bis 6 Uhr.
- Der komplette öffentliche Nahverkehr wurde zusätzlich zum öffentlichen Überlandverkehr eingestellt.
- Ansammlungen von mehr als drei Personen wurden verboten, außer in Geschäften und Apotheken, in denen Personen einen Mindestabstand von zwei Metern einhalten müssen.
- Personen über 70 Jahren wurde es verboten, das Haus zu verlassen, mit Ausnahme von notwendigen Besuchen im nächstgelegenen Geschäft, in der Apotheke oder in einer medizinischen Einrichtung.
Um die Umsetzung dieser Regelungen und verschärften Bedingungen zu überwachen, wurden durch Polizei und Armee Kontrollpunkte vor und in vielen Städten eingerichtet.
Die Strafen bei Verstößen waren drastisch: 3000 GEL für Privatpersonen (etwa 1.000 US-Dollar, eine unbezahlbare Summe für die meisten Georgier) und 15.000 GEL für juristische Personen. Wiederholte Verstöße konnten strafrechtlich verfolgt und mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren geahndet werden. Die Bevölkerung hat alle Maßnahmen geduldig und – für viele überraschend – diszipliniert mitgetragen, auch als rund um das orthodoxe Osterfest ein zehntägiges totales Fahrverbot verhängt wurde, was das öffentliche Leben dann nahezu zum Erliegen brachte. Ebenfalls überraschend war das große Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement der Regierung und insbesondere in Premierminister Giorgi Gakharia, der noch einige Monate zuvor einer der umstrittensten Politiker des Landes war.
Oppositionsparteien zunächst solidarisch mit der Regierung
Auch innerhalb der Opposition herrschte anfänglich größtenteils ein Konsens, die Regierung und deren Maßnahmen nicht zu kritisieren. „Alle Oppositionsparteien waren mit der Regierung solidarisch, als sie im Kampf gegen die Pandemie den Ausnahmezustand erklärte. Als wir jedoch sahen, dass die Einschränkungen im Ausnahmezustand nur zum Wohle der Regierung genutzt wurden, drückten wir unser Misstrauen aus“, sagt Levan Samushia, Exekutivsekretär der Partei der Freien Demokraten in Georgien. Ähnlich sieht es Tamar Kordzaia, Exekutivsekretärin der Republikanischen Partei Georgiens: „Zu Beginn hat die Bevölkerung der Regierung vertraut, als sie strenge Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ergriffen hat. Die Beschränkungen waren jedoch selektiv, da die Regierung zwischen Bidzina Iwanischwilli und dem Patriarchat hin- und hergerissen war. Beispielsweise an den Osterfeiertagen durften die Menschen, trotz Ausgangssperre und Ausnahmezustand, in die Kirchen gehen und die Regierung hat nichts dagegen unternommen.“
„Die Regierung hat den im Land erklärten Ausnahmezustand zu Wahlzwecken ausgenutzt“, so Levan Samushia. Durch ihr Handeln habe die Regierung sogar die Wahrnehmung des vorherrschenden formalen Säkularismus in der Gesellschaft beseitigt. Wahlen stehen vor der Tür und die Regierung hätte die Kirche für ihre Wahlstimmen genutzt, so Samushia
Vor Ausbruch der Corona-Pandemie bestimmte die Diskussion über ein neues Wahlsystem in Georgien die innenpolitische Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition – begleitet von Protesten, Parlamentsblockaden und der teilweise gewaltsamen Auflösungen von Demonstrationen. Nach langwierigen Verhandlungen hatten sich beide Lager am 8. März auf einen Kompromiss geeinigt. Dieser sieht weiterhin ein gemischtes Wahlrecht vor, jedoch werden nur noch 30 von 150 Abgeordneten mit Direktmandat gewählt. Die Barriere zum Einzug ins Parlament wird von fünf auf ein Prozent gesenkt. Bisher wurde das Parlament in einem gemischten System mit folgender Aufteilung gewählt: 73 Abgeordnete direkt in Einzelwahlkreisen, die restlichen 77 Sitze entsprechend dem proportionalen Stimmenanteil der Parteien, wobei es eine 5-Prozent-Hürde zu überwinden galt. In diesem bisherigen Wahlrecht sah die Opposition einen übermäßigen Vorteil für die Regierungspartei „Georgischer Traum“.
Nach Massenprotesten im Sommer 2019 hatte Bidsina Iwanischwili – Parteichef der Regierungspartei „Georgischer Traum“ und milliardenschwerer informeller Herrscher des Landes – bereits ein neues Wahlrecht für die nächsten Parlamentswahlen angekündigt: Ein Übergang zu einem kompletten Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel. Auslöser der damaligen Protestdemonstrationen war der Auftritt russischer Duma-Abgeordneter im georgischen Parlament. Doch die vorgeschlagene Verfassungsänderung zur Reformierung des Wahlsystems scheiterte im November vergangenen Jahres bei einer Abstimmung im Parlament. 37 Abgeordnete der Regierungspartei enthielten sich der Stimme, drei stimmten dagegen. Das Versprechen des Parteivorsitzenden wurde damit von den Abgeordneten seiner eigenen Partei blockiert. Das Resultat: Erneute Proteste und Demonstrationen mit zum Teil mehreren tausend Teilnehmern.
Durch die andauernden Proteste mit Forderungen nach einem Regierungsrücktritt und vorgezogenem Neuwahlen und auch steigendem internationalem Druck, sahen sich die Regierungsvertreter an den Verhandlungstisch gezwungen – ein Gesprächsmarathon folgte, der sich mehr als drei Monate hinzog. Dieser Dialog, mit dem Ziel, einen von allen Seiten akzeptierten Kompromiss zum Wahlrecht für die Parlamentswahlen zu erzielen, startete am 30. November 2019. Der deutsche Botschafter in Tiflis, Hubert Knirsch, der Leiter der EU-Delegation, Carl Hartzell, der Vertreter des Europarates sowie die Geschäftsträgerin der amerikanischen Botschaft agierten als Vermittler in diesem schwierigen Prozess.
Verfassungsänderungen zum neuen Wahlsystem beschlossen
Nachdem es teilweise Befürchtungen gab, dass der Zeitplan wegen der Corona-Pandemie nicht eingehalten werden kann, und einige Politiker des regierenden „Georgischen Traums“ eine mögliche Verschiebung des Wahltermins in Erwägung zogen, hat das Parlament am 29. Juni in dritter Lesung den Verfassungsänderungen zugestimmt. Die beiden großen Oppositionsparteien „Vereinigte Nationalbewegung“ und „Europäisches Georgien“ boykottierten die Abstimmung. Sie sahen den Kompromiss vom 8. März seitens der Regierung nicht erfüllt, da ein in ihren Augen politischer Gefangener nicht freigelassen wurde. Nachdem die georgische Staatspräsidentin Salome Surabischwili die Verfassungsänderungen kurz nach der Parlamentsabstimmung unterschrieben hatte, versprach Parlamentspräsident Archil Talakvadze, dass ein neues Wahlgesetz innerhalb der nächsten zehn Tage im Parlament beschlossen werden kann: „Ab heute werden wir mit der Arbeit am Wahlgesetz beginnen und das Parlament wird innerhalb der nächsten zehn Tage die Änderungen des Wahlkodex auf der Grundlage der Empfehlungen der OSZE verabschieden.“
Damit scheint zum jetzigen Zeitpunkt den Parlamentswahlen im Herbst unter dem neuen Wahlsystem nichts mehr im Wege zu stehen – mit einem leichten „Corona-Vorteil“ für die Regierungspartei und ersten Rissen in der vor Corona noch einheitlichen Front so ziemlich aller Oppositionsparteien. Aber die Stimmung kann sich jederzeit wieder ändern. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie für die Bevölkerung sind noch nicht absehbar. Insolvenzen, der Verlust von Arbeitsplätzen insbesondere im Dienstleistungssektor, steigende Preise, ausfallende Rücküberweisungen von Auslandgeorgiern (die Georgische Nationalbank erwartet einen Rückgang von 30 Prozent im laufenden Jahr) und eine erhebliche Abwertung der Landeswährung stellen die Regierung vor große Herausforderungen. Die verschiedensten Hilfsprogramme und Maßnahmen, die seitens der Regierung beschlossen wurden, werden nicht ausreichen können.
Besonders hart hat die Corona-Krise den Tourismussektor getroffen. Erfolgreich hatte sich Georgien als Trendreiseziel etabliert und die Tourismuseinnahmen stiegen innerhalb der letzten fünf Jahre um 75 Prozent auf etwa 3,3 Milliarden US-Dollar und erreichten damit knapp 19 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts (Quelle: Germany Trade and Invest).
Um den Auswirkungen des Tourismusrückganges während der Corona-Pandemie entgegenzuwirken, hat die georgische Regierung bereits im März eine Reihe von Maßnahmen beschlossen. Dazu gehören beispielsweise eine Art Arbeitslosengeld, Steuerbefreiungen, Übernahme der Zinsen von Bankdarlehen und die Stundung von Zins- und Tilgungszahlungen. Personen, die durch die Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren haben, können unter bestimmten Voraussetzungen für sechs Monate eine Art Arbeitslosengeld in Höhe von 200 Lari (etwa 60 Euro) erhalten – ein Novum für Georgien.