Lebenschancen
Dieser Artikel ist zuerst erschienen im liberal-Magazin 01.2018.
Ralf Dahrendorf hatte Selbstironie. In seinem letzten Buch „Versuchungen der Unfreiheit“, das er im Jahre 2006 veröffentlichte – also drei Jahre vor seinem Tod – schrieb er folgenden Satz: „In Zeiten des Umbruchs sind die Intellektuellen nötig, in normalen Zeiten allenfalls nützlich.“ Die Siebzigerjahre gehörten eindeutig in die erste Kategorie: Währungs-, Wachstums- und Ölkrisen, Konjunktureinbrüche, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung – all dies hatte die selbstzufriedene Wohlstandsgesellschaft der Sechzigerjahre tief erschüttert. Offenbar war völlig Neues im Gange, und noch mehr stand bevor. Strukturwandel war ein Zauberwort der Zeit. Der Liberale Dahrendorf erlebte jene Jahre zunächst in Brüssel und dann in einem der Epizentren des forcierten Umbruchs: im Großbritannien der Vor-Thatcher-Zeit, seit 1974 als Direktor der London School of Economics and Political Science, der regelmäßig die großen Herausforderungen öffentlich erklärte und kommentierte, bevorzugt im Vereinigten Königreich und in seiner alten Heimat Deutschland.
Ergebnis waren Einzelbetrachtungen, die er 1979 in kluger Auswahl zu einem kleinen Büchlein zusammenfasste. Dessen Titel ist Programm: „Lebenschancen“. Der Untertitel suggeriert einen bescheidenen Anspruch. Er lautet: Anläufe zur sozialen und politischen Theorie. Also: nichts Endgültiges, kein mächtiges Gedankenkonstrukt und schon gar keine endgültige Wahrheit, sondern etwas Erstes, Unvollkommenes, Vorläufiges. Gerade das macht das Buch so spannend, auch fast 40 Jahre später, denn man muss heutzutage nach Schulden und Flüchtlingskrisen, Brexit-Vote, Trump-Triumph sowie Wiederaufstieg von Autokratie im Osten und Rechtspopulismus im Westen kein Prophet sein, um unsere Zeit als eine Phase des abermaligen Umbruchs zu deuten. Also auch heute die Frage der Intellektuellen: Wie ist Fortschritt überhaupt noch möglich?
Dahrendorfs liberales Konzept der Lebenschancen kann helfen, sich zu orientieren. Sein Grundgedanke ist ganz einfach: Eine Gesellschaft sollte so verfasst sein, dass sie möglichst vielen Menschen möglichst große Lebenschancen bietet. Also: kein Heilsversprechen für die Zukunft, keine staatliche Glücksgarantie, keine allumfassende Harmonie der Ziele und Wünsche, sondern der immer wieder neu zu gestaltende Versuch, die Veränderungen von Arbeitswelt, Technologie und weltweitem Handel bestmöglich in „Optionen“ für den Einzelnen umzusetzen. Statt Bevormundung also Begleitung durch staatliche Institutionen, die den Menschen helfen, ihre Talente und Möglichkeiten zu nutzen, um sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die sich ständig und unaufhaltsam wandelt. Denn sie muss eine offene Gesellschaft sein und bleiben – ganz im Sinne des Philosophen Karl Popper, den Ralf Dahrendorf verehrte und der im Register seines Buches mit Abstand am häufigsten vorkommt.
Es geht dabei nicht um eine bindungs- und wurzellose Modernisierung, weshalb Dahrendorf die Lebenschancen als ein Zusammenspiel von Optionen mit „Ligaturen“ deutet – ein Begriff, der ihm etwas zu akademisch geriet. Gemeint ist aber etwas ganz Einfaches: gewachsene Bindungen aus Elternhaus, Heimat, Tradition und Religion oder Konfession, die der Mensch natürlich nicht einfach abstreift. Und das ist auch gut so.
Dahrendorfs liberales Konzept der Lebenschancen kann helfen, sich zu orientieren
Für Dahrendorf war klar: Der Staat, der ernsthaft versucht, die besten Lebenschancen für möglichst viele Menschen zu bieten, schafft berechtigte Hoffnung auf eine (noch) bessere Zukunft. Dazu gehört zu allererst die bestmögliche Bildung – als notwendige Voraussetzung, um die Chancen des Neuen wahrnehmen zu können und die Risiken zu meistern. Wichtig ist dabei: „Bildung als Bürgerrecht“, so Dahrendorfs viel zitiertes politisches Schlagwort, ist nicht egalitär und darf es nicht sein. Sie schafft Startgerechtigkeit, aber keine gleichen Ergebnisse, eben weil die Menschen verschieden sind. Die Ergebnisgleichheit ist – zu Ende gedacht – ein geradezu totalitäres Heilsversprechen, das in einem liberal verfassten Staat nichts zu suchen hat. Ein hochdifferenziertes Schulwesen ist nicht nur legitim, sondern nötig: von der Förderschule bis zur Eliteuniversität und von der staatlichen bis zur freien Trägerschaft.
Wie Dahrendorf überhaupt in der Ungleichheit ein wesentliches Element sieht, um die nötige Spannkraft und Kreativität einer Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten. Wie ein roter Faden durchzieht dieser Gedanke sein Buch „Lebenschancen“. Die Menschen brauchen realistische Vorbilder, um ihren Lebensentwürfen Orientierung zu geben. So folgten die Bildungsvereine der Arbeiter im späten 19. Jahrhundert den Idealen eines beruflich qualifizierten Bürgertums, und eben dies machte die Durchlässigkeit der Gesellschaft erst möglich. „Realistisch“ ist dabei ein Vorbild, wenn der Abstand zwischen der eigenen Wirklichkeit und der angestrebten Wunschvorstellung nicht utopisch groß wird, aber eben auch nicht zu klein, um überhaupt die Kräfte der Motivation in Gang zu setzen.
Dahrendorf war völlig klar: Über das optimale Maß an Gleichheit oder Ungleichheit lässt sich politisch endlos streiten. Und ihm war ebenso klar, dass er von idealistischen Gesinnungsethikern für seine nüchterne Verteidigung der Ungleichheit keinen Applaus bekommen würde. Aber er hielt es damals schon für absolut nötig, der missmutigen Messung der vorhandenen Ungleichheit und der moralisierenden Klage über den Zustand der Welt eine zukunftsorientierte dynamische Deutung entgegenzusetzen.
Das war 1979. Seither sind fast vier Jahrzehnte vergangen. Die damaligen Zwischenrufe kritischer Beobachter über die fortwährende Ungleichheit der Gesellschaft sind nicht weniger und leiser, sondern viel häufiger und lauter geworden. Sie bilden längst einen politischen Hauptstrom der Klage. Er verweist fast täglich auf eine Ungleichheit, die angeblich unaufhaltsam zunimmt, wenngleich die Fakten keineswegs unstrittig sind und bleiben. Dabei wird immer öfter auf die absolute Spitze der Einkommenspyramide geblickt, nämlich den raschen Aufstieg einer kleinen Minderheit von „Superreichen“, die in der global vernetzten Welt mit ihren jeweiligen Geschäftsmodellen reüssieren. Der Ruf nach drastischen Vermögensteuern erschallt immer lauter, und zwar nicht mehr nur auf der Seite der extremen politischen Linken.
Dahrendorf macht in „Lebenschancen“ deutlich, wo die großen Gefahren einer solchen politischen Sicht liegen: Eine liberale Gesellschaft, die Hoffnung und Fortschritt als Leitmotive nicht aufgeben will, muss sich davor hüten, besonders erfolgreiche Menschen ungebührlich zu belasten oder gar zu verteufeln und zu vertreiben. Dies gilt auch dann, wenn deren Erfolg von Glück und Moden begünstigt ist. Denn es wäre eine Illusion zu glauben, objektive Leistung und subjektives Glück ließen sich immer so sauber trennen, dass einem vagen Gefühl der Fairness und Gerechtigkeit Genüge getan wird. Die Lebensläufe von Filmschauspielern, Rockstars und Sportlern liefern dafür bestes Anschauungsmaterial. Und genauso die Schicksale von Start-up-Unternehmern, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das richtige Produkt anbieten – oder frühzeitig in Konkurs gehen und in der Statistik der Reichen nie wieder auftauchen.
Lebenschancen im Sinne Ralf Dahrendorfs sind eben nicht säuberlich zerlegbar in Gut und Böse, gerecht oder ungerecht, fair oder unfair. Eine vitale Gesellschaft, die Lebenschancen für möglichst viele befördern will, muss auch in dieser Hinsicht offen und tolerant sein.
Karl-Heinz Paqué ist stellv. Vorstandsvorsitzender der Stiftung für die Freiheit. Er las als 22-jähriger Student Dahrendorfs „Lebenschancen“. Das Buch überzeugte ihn. Jetzt las er es wieder, fast vier Jahrzehnte später. Es überzeugt ihn noch immer.
Chefredakteurin liberal - Das Magazin für die Freiheit
Kirstin Härtig
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