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Ungarn
Viktor Orbán im “Jahr des Widerstands“

Demonstrationswelle gegen Orbán-Regierung lässt nicht nach
Ungarn erlebt die größten Proteste der vergangenen Jahre. Auslöser war das umstrittene Arbeitszeitgesetz.

Ungarn erlebt die größten Proteste der vergangenen Jahre. Auslöser war das umstrittene Arbeitszeitgesetz.

© picture alliance/ZUMA Press/ Omar Marques

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat eine Reihe unpopulärer Gesetzesmaßnahmen durchgesetzt, die in den vergangenen Wochen zu Massenprotesten und Gewalt geführt haben. Die Proteste richteten sich gegen das neue Arbeitszeitgesetz, das Kritiker als "Sklavengesetz" bezeichnen. Orbán erlebt eine neue Qualität des Angriffs auf seine Machtposition – auch, weil die Proteste die zersplitterte Opposition endlich zu einen scheinen.

Die vom ungarischen Parlament im letzten Monat verabschiedeten Änderungen des Arbeitszeitgesetzes wurden in der Bevölkerung heftig kritisiert und lösten die größten Straßenproteste seit Jahren aus. Tausende Menschen protestierten am vergangenen Samstag in Budapest gegen das neue Gesetz, das Arbeitgebern erlaubt, jährlich 400 Überstunden von ihren Angestellten zu fordern. Oppositionsgruppen haben in den letzten Wochen in der ungarischen Hauptstadt und in anderen Städten mehrere Proteste gegen die rechtsnationale Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán organisiert. Die Gewerkschaften drohen mit einem Generalstreik.

Worum geht es beim “Sklavengesetz”?

Das oft als „Sklavengesetz” bezeichnete Gesetzt sieht vor, dass Arbeitgeber von ihren Mitarbeitern, anstelle der aktuell 250, bis zu 400 Überstunden im Jahr verlangen können. Mit der Bezahlung der Mehrarbeit können sich die Arbeitgeber bis zu drei Jahre Zeit lassen. Faktisch könnten Arbeitgeber durch die Gesetzesänderung einem durchschnittlichen Arbeitstag zwei Arbeitsstunden hinzufügen bzw. sechs Werktage in der Woche einführen. Die Regierung argumentiert, Überstunden seien freiwillig, aber laut Einschätzung der Gewerkschaften riskieren Arbeiter ihre Karriere, wenn sie sich dagegen weigern, da Arbeitgeber über genügend Druckmittel verfügen, um die Arbeitnehmer zur Zustimmung zu zwingen.

Laut der Regierung soll die Novellierung den Arbeitskräftemangel des Landes verringern. Die Arbeitslosenquote in Ungarn ist auf 3,7 Prozent gefallen, während sich die Zahl der unbesetzten Arbeitsplätze in den vergangenen drei Jahren verdoppelt hat. Das liegt zum einen an der Auswanderung junger Menschen ins Ausland und zum anderen an der alternden Bevölkerung Ungarns. Während in vielen anderen Ländern Arbeitskräftemangel durch Einwanderung ausgeglichen wird, haben Orbán und seine politischen Verbündeten die Einwanderung als Bedrohung für die Identität und die nationale Sicherheit Ungarns bezeichnet.

Der Arbeitskräftemangel in Ungarn hat außerdem die Durchschnittslöhne angehoben. Die Ungarn geben mehr aus und die Wirtschaft wächst. Gerade in den Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und Arbeitgebern über eine Erhöhung des Mindestlohns könnte Orbán neue Handlungsfähigkeit demonstrieren. Gewerkschaften streben eine Steigerung um 13 bis 15 Prozent an, Arbeitgeber bieten 5 bis 8 Prozent an. Falls die Verhandlungen in eine Sackgasse geraten, könnte das einen Spielraum für Orbáns Regierung öffnen, um die Demonstranten durch mögliche Lohnerhöhungen zu besänftigen.

Eine Reihe unpopulärer Maßnahmen

Obwohl das umstrittene Arbeitszeitgesetz als Auslöser der Proteste gilt, richten sich die Kundgebungen auch gegen andere Missstände. Nachdem die ungarische Regierung ein Gesetz beschlossen hatte, das die Zulassung von Universitäten mit Hauptsitz außerhalb der EU beschränkte, gab Anfang Dezember die von US-Amerikaner George Soros gegründete Zentraleuropäische Universität (CEU) ihren Umzug von der ungarischen Hauptstadt nach Wien bekannt. Ungarn verliert so einen international anerkannten Bildungsleuchtturm.

Letzte Woche hat das Parlament ein Gesetz für ein neues Verwaltungsgericht gebilligt, das nur dem Justizministerium unterstellt ist. Daraus ergibt sich der begründete Verdacht, dass künftig allein die Regierung entscheidet, ob beim Gericht Beschwerden zugelassen oder abgelehnt werden. Die Menschenrechtsorganisation „Helsinki-Komitee“ schätzt das Gesetz als „neue ernsthafte Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn" ein.

Forderungen der Opposition

Unmittelbar nach der Verabschiedung des „Sklavengesetzes“ am 12. Dezember trugen Opposition und Gewerkschaften den Protest gemeinsam auf die Straße. Eine Gruppe Oppositionsabgeordneter hatte sich Zutritt zu dem Gebäude des staatlichen Fernsehens verschafft und versuchte im Studio ihre Fünf-Punkte-Erklärung zu verlesen. Zwei der Abgeordneten - die beiden Fraktionslosen Bernadett Szél und Ákos Hadházy - forderten neben der Widerrufung des Arbeitszeitgesetzes, eine unabhängige Justiz, weniger Überstunden für die Polizei, Anschluss an die Europäische Staatsanwaltschaft und unabhängige Staatsmedien. Der Sicherheitsdienst der Fernsehanstalt entfernte sie jedoch aus dem Gebäude, bevor sie ihre Petition verlesen konnten.

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Ein fest eingefahrenes Narrativ der Regierung

Victor Orbáns engste Mitarbeiter beschreiben die Demonstranten als "Provokateure", "ausländische Straftäter", "Migrantenfreunde", "Agenten des Soros-Netzwerks", "aggressive Minderheit " und "Hasser von Christentum und Weihnachten ". Die regierende Fidesz-Partei hat wiederholt, die Proteste seien Teil einer Kampagne zur Europawahl im Mai und würden von denen organisiert, die auch die Masseneinwanderung in die EU unterstützten. Diese Aussagen haben nur zur weiteren Eskalation der Lage beigetragen. Die staatlichen Medien berichten ausführlich über die Proteste der „Gelbwesten in Frankreich“, nicht aber über die Demonstrationen im eigenen Land.

Opposition findet zu neuem Schwung

Die Proteste bringen alle Oppositionsparteien zusammen, von der radikal-rechten Jobbik-Partei bis hin zu den Grünen. Anna Donáth, Vizechefin der liberalen Momentum-Partei rief 2019 zum „Jahr des Widerstands" aus und forderte „Solidarität“ mit allen Parteien und Gruppen, die gegen die Gesetzesmaßnahmen seien. Momentum machte 2017 vor, wie man die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung erfolgreich kanalisiert. Die Partei entstand aus der NOlympia-Kampagne, die letztlich die regierungsgestützte Bewerbung der Hauptstadt Budapest für die Olympischen Sommerspiele 2024 scheitern ließ. Die aktuellen Proteste gegen die Regierung sind die größten seit 2010. Sie zeigen, dass Orbán das Land nicht in dem Maße unter Kontrolle hat, wie es die Wahlergebnisse vielleicht vermuten lassen.

Toni Skorić arbeitet als Projektmanager für Mitteleuropa und die baltischen Länder im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Prag.