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Die Lockdown-Strategie passt nicht länger zur Identität der Bundesrepublik

Es ist Zeit in die Offensive zu gehen, fordert Thomas Straubhaar
Lockdown Exit
© picture alliance / Eibner-Pressefoto

In der Corona-Krise wird der Ruf nach Verstaatlichung, nach dem Ende der Globalisierung und dem Scheitern des Kapitalismus laut. Doch das Gegenteil ist der Fall: Freiheit sorgt für Fortschritt und schützt Leben  auch und insbesondere während einer Epidemie. Warum Innovation, Digitalisierung und die soziale Marktwirtschaft unsere besten Möglichkeiten im Kampf gegen Epidemien sind, erläutert der Ökonom Thomas Straubhaar in einem Gastbeitrag für die Welt und Christian Lindner in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL. Beide Autoren sind Kuratoriumsmitglieder der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Kapitalismuskritiker nutzen eine scheinbare Gunst der Stunde. Mit Süffisanz und Besserwisserei stellen sie genüsslich ihren Erzfeind an den Pranger. Es sei erbärmlich, dass nun ausgerechnet in Zeiten großer Not die Wirtschaft beim Staat um Hilfe bitte. In guten Jahren machten Firmen große Gewinne. Jetzt hingegen würden die Verluste sozialisiert und die Steuerzahlenden zur Kasse gebeten. So lauten die Vorwürfe an Marktwirtschaft und Unternehmen.

Entsprechend nonchalant werden die ökonomischen Folgen einer nur langsam gelockerten Shutdown- und Isolationsstrategie verniedlicht. Ob einschneidende Maßnahmen noch über Monate oder länger beibehalten werden (bis wohl ein Impfstoff verfügbar ist), was soll’s!

Umso offensichtlicher würden, je länger der Ausnahmezustand dauert, die Mängel eines verhassten Wirtschaftssystems zutage treten. Desto stärker ließe sich eine Abkehr rechtfertigen. So Erwartung und Hoffnung der Feinde der Marktwirtschaft.

Ein Großteil der antikapitalistischen Stimmungsmache lässt sich sowohl grundsätzlich wie empirisch einfach widerlegen. Denn dass der Staat gerade in Krisenzeiten als Notretter auftritt, widerspricht Marktwirtschaft und Kapitalismus in keiner Weise. Im Gegenteil: Auch und gerade der Kapitalismus verlangt nach einem starken Staat. Denn nur ein starker Staat kann individuelle Grund- und Freiheitsrechte verlässlich garantieren. Nur so lassen sich Eigentums- und Verhaltensrechte und damit die Funktionsfähigkeit offener und freier Märkte sichern.

Desgleichen spielt der Staat im Kapitalismus die Rolle des letzten sicheren Versicherungshafens. Nur er kann nicht versicherbare Großrisiken auffangen. Dazu gehören die Folgeschäden von Krieg und (Natur-)Katastrophen, Vulkanausbrüchen und Erdbeben, Terroranschlägen und eben auch Pandemien.

Was normalerweise im Kleingedruckten als „Ausschlussklausel“ kaum wirklich interessiert, wird im Schadensfall eben ganz bewusst in die Hände des Staates übertragen. Nur er kann Hilfe für alle, Unterstützung für Notleidende und Entschädigungen für alle Betroffenen garantieren. Bei unvorhersehbaren, ungewissen und damit unberechenbaren Schadensfällen ist der Staat somit als Notretter in der Pflicht – auch und gerade im Kapitalismus.

Niemand behauptet, dass der Kapitalismus perfekt sei und der Markt nicht vielfacher Ursachen wegen versagen kann. Genau deshalb muss der Staat Regeln vorgeben, deren Einhalt kontrollieren und Missbrauch bestrafen. Es gilt, (Markt-)Macht zu verhindern und Kunden wie Beschäftigte vor Ausbeutung und Willkür durch Monopole zu schützen. Aber bei allen Fehlern hat sich die Marktwirtschaft in der Realität als außerordentlich erfolgreiches Ordnungssystem erwiesen, das mehr Wohlstand für alle hervorbringt als jede Alternative.

Menschen leben in jenen Gesellschaften länger, gesünder und wohlhabender, die die wirtschaftliche Sphäre gegen politische Übergriffe und Willkür besser schützen. Da droht nun eine Unwucht. Die Strategie der sozialen Isolation und des wirtschaftlichen Lockdown war vernünftig, zweckmäßig und damit richtig. Aber sie greift eben auch in massiver Weise in grundrechtlich geschützte Freiheiten und die Geschäftsmodelle der Unternehmen ein.

Bei aller Rechtmäßigkeit ist das Ausmaß der Willkür immens, das nun Bürokraten offensteht. Technokraten und Experten treiben Regierungen und Politik zu partiellen und sequenziellen Lockerungsschritten und bestimmen damit über Sein oder Nicht(mehr)sein von Firmen, Geschäften, Freiberuflern, Selbstständigen, Kultur- und Sportbetrieben oder gemeinnützigen (Hilfs-)Organisationen.

Letztlich stellt jedoch die Marktwirtschaft her, was der Staat verteilen kann. Wer, wenn nicht Millionen von Firmen, soll bei einer Wiedererweckung der Wirtschaft nach dem erzwungenen Winterschlaf für den Nachschub bei Atemmasken, Schutzkleidung, Desinfektionsmitteln, medizinischen Apparaten und Einrichtungen für Intensivstationen sorgen, Impfstoffe entwickeln, aber auch eine Bevölkerung mit all dem versorgen, was an Gütern und Dienstleistungen gewünscht wird?

Die Empirie spricht sowohl im historischen Längs- wie aktuellen Quervergleich mit erdrückender Evidenz für marktwirtschaftliche Systeme und gegen antikapitalistische Alternativen. Ein starker Staat, der freie Märkte vor Machtmissbrauch – auch von Regierungen und Bürokraten – schützt, ist das eine. Leistungsfähige Unternehmen, die nach Profiten streben und nicht nach dem Wohlwollen von Politik und Verwaltung, sind das andere. Zusammen bieten sie in Zeiten des Coronavirus die beste Voraussetzung für ein erfolgreiches Krisenmanagement.

Ein defensiver Abwehrkampf ist kleingeistig

Wer Gesundheit und langes Leben aller Menschen ganz oben auf der gesellschaftlichen Prioritätenliste stehen hat, muss also genau das Gegenteil dessen anstreben, was die Kapitalismuskritiker fordern. Die Marktwirtschaft ist zu stärken, nicht zu schwächen. Sie ist Voraussetzung und besitzt das Potenzial für einen radikalen Perspektivenwechsel im Kampf gegen Pandemien. Es sollte künftig nicht mehr prioritär darum gehen, Viren auszumerzen, sondern mit Viren zu leben. Bis anhin dominierten defensive, auf Ge- oder gar Verbote ausgerichtete Strategien die Anti-Corona-Politik. Irgendwie schaffte man es nicht so ganz eindeutig, sich zwischen verzögerter Ansteckung und Ausrottung zu entscheiden.

Eine offensive Kehrtwende jedoch akzeptiert die unangenehme Wahrheit, dass die Menschheit nicht nur mit der Corona-Pandemie noch lange wird leben müssen. Biologische, chemische und elektronische Viren stellen künftig jederzeit und überall eine ganz grundsätzliche Bedrohung dar. Deshalb ist ein defensiv ausgelegter Abwehrkampf viel zu kurzfristig und zu kleingeistig.

Die Marktwirtschaft, die Identität der Bundesrepublik, ist prädestiniert für eine offensive Strategie, die Gesellschaften zutraut, sich tagtäglich an ein Zeitalter mit Viren besser und besser anzupassen. Sie setzt auf die unerschöpfliche Kraft von Innovationen, dem dynamischen Fortschrittsmotor des Kapitalismus.

Sie mobilisiert die den Menschen innewohnende Neugier und Kreativität. Sie nutzt Technik und neue Technologien der Digitalisierung und der Datenwirtschaft, um mit rasender Geschwindigkeit Infektionsherde zu erkennen und Pandemien zu verhindern, bevor sie ausbrechen.

Nach einer angesichts der schrecklichen Bilder in Masse sterbender Corona-Infizierter verständlichen Schockstarre gilt es nun, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit in Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften wiederzuerwecken. Es ist an der Zeit, aus dem Schneckenhaus der Angst herauszukriechen und die heute bereits verfügbaren vielfältigen Möglichkeiten des technologischen Fortschritts zu nutzen.

Ein Leben mit Viren aller Art muss und wird möglich sein. Es wäre menschliche Dummheit, künstliche Intelligenz, kluge Algorithmen, selbstlernendes maschinelles Lernen und vieles mehr, was an Innovation noch kommen wird, nicht so rasch und weit wie jetzt schon möglich zum gesundheitlichen Wohlergehen aller zu nutzen.

So verständlich und auch unverzichtbar es war, den alten und bestehenden Unternehmen mit staatlicher Unterstützung in der Corona-Krise zu helfen, so richtig ist es nun, auf Marktwirtschaft und Innovationsanreize zu setzen, wenn es künftig um ein Leben mit Viren geht. Die klügsten und kreativsten Köpfe sollen mit allen verfügbaren Ideen und Mitteln motiviert werden, nach neuem Wissen im Kampf gegen Pandemien zu suchen.

Die Chance auf Gewinn dürfte Unternehmen locken, daraus neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Mit modernen, zeitgemäßen Strategien der Digitalisierung und Datenwirtschaft ließen sich mehr Menschenleben retten als mit einer Vielzahl herkömmlicher Verfahren. Und es dürften Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten entstehen, die bei wiederaufflammenden oder neuen Pandemien schnellere und bessere Reaktionen ermöglichen. Es ist Zeit, in die Offensive zu gehen! Jetzt!


Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und Kuratoriumsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Der Artikel ist am 22. April auf welt.de erschienen.