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Naher Osten
Eskalationsgefahr im Nahen Osten nach gezielten Tötungen hochrangiger Hisbollah- und Hamas-Mitglieder

Der Angriff von gestern Abend im Stadtteil Dahiyeh ist ein großer Schock für die Menschen.

Der Angriff auf Beirut ist ein großer Schock für die Menschen.

© picture alliance / Anadolu | Houssam Shbaro

Nach der gezielten Tötung von zwei hochrangigen Mitgliedern der Terrororganisationen Hisbollah und Hamas ist die Sorge um eine Eskalation im Nahen Osten groß. Wir haben unsere Experten, Aret Demirci, Leiter des Büros in Beirut und Kristof Kleemann, Leiter des Büros in Jerusalem, zu den Konsequenzen und möglichen Reaktionen befragt. Sie ordnen die Geschehnisse ein.

FNF: Wie haben die Menschen im Libanon auf den gestrigen Angriff auf Beirut reagiert?
Aret Demirci: Seit Samstagabend herrschte bereits kollektive Panik im Libanon, denn alle befürchteten, der Angriff auf das drusische Dorf mit zahlreichen zivilen Opfern könnte die Initialzündung für einen Flächenbrand werden und den Libanon in einen ungewollten Krieg zerren.

Der Angriff von gestern Abend im Stadtteil Dahiyeh ist ein großer Schock für die Menschen. Für die meisten Libanesen waren die Kämpfe bislang weit weg an der Grenze zu Israel- wobei „weit weg“ im Libanon relativ zu sehen ist. Die Distanz zwischen Beirut und der südlichen Grenze beträgt nur knapp 100 Kilometer in diesem kleinen Land. Die Dahiyeh hingegen, wo sich der Angriff gestern ereignete, ist zwar eine Hisbollah-Hochburg, befindet sich jedoch mitten in der Stadt und gleich neben dem einzigen internationalen Flughafen des Landes.

Der Angriff von gestern Abend hat den Libanesen nochmal klar vor die Augen geführt, wie schwach und angreifbar ihr Land ist- jeder Punkt des Landes kann potentiell angegriffen werden, sie sind nirgendwo geschützt

Wie wird die Hisbollah auf den Angriff von gestern Abend reagieren?
Aret Demirci: Zunächst bestand bei den Libanesen die Hoffnung, dass Israel - bewusst oder unbewusst- das Ziel, den hochrangigen Kommandeur Shukr zu töten, verfehlt haben könnte. So hätte es für die Hisbollah weniger Grund gegeben, darauf zu reagieren und an der Eskalationsspirale zu drehen. Doch seit den späten Stunden mehren sich die Berichte, wonach Shukr, der für den Angriff auf Majdal Shams verantwortlich sein soll, bei dem Angriff getötet sein könnte. Und Shukr ist nicht irgendwer- laut Insidern soll er die Nummer 2 in der Kommandostruktur der Miliz und somit die „rechte Hand“ von Hisbollah-Chef Nasrallah gewesen sein. Der Angriff war somit auch eine Warnung an Nasrallah.
Die Hisbollah selbst hätte kein Interesse an einer weiteren Eskalation, die zu einem all-out-war führen könnte, mit fatalen Konsequenzen für die Miliz und für das Land. Doch Teheran wird die Hisbollah drängen, darauf zu reagieren. Je nach Stärke dieser Reaktion werden wir sehen können, wohin sich die Region bewegt. Für die Libanesen kann ich nur hoffen, dass eine weitere Eskalation ausbleibt- es ist ein Krieg, den die allermeisten Libanesen nicht wollen. Doch der Libanon, schon vor dem 7. Oktober de facto ein failed state, ist in Geiselhaft der Hisbollah und über die weiteren Schritte der Miliz wird wohl in Teheran entschieden.

Heute Morgen kam die Meldung, dass der Hamas Chef Hanija in Teheran getötet wurde. Welche Auswirkungen hat das?
Kristof Kleemann:
Die Entwicklungen von heute Morgen haben die Lage nochmals verschärft. Teheran als die Schaltzentrale der „Achse des Widerstands“ steht jetzt unter massiven Druck, zu reagieren. Der iranische Sicherheitsrat veröffentlichte heute eine Erklärung, wonach Israel „rote Linien überschritten habe“. Die Tötung von Hanija auf eigenen Staatsgebiet ist für den Iran ein Schock und in gewisser Weise auch eine Demütigung – denn der Angriff in Mitten der Hauptstadt stellt auch das Abschreckungspotenzial Teherans in Frage. Auch wenn Israel bislang nicht die Verantwortung für die Tötung Hanija’s übernommen hat, gehen die meisten Beobachter von einer gezielten Operation Israels aus. Die Tötung von zwei führenden Vertretern von Terrororganisationen an unterschiedlichen Orten demonstriert die Fähigkeit Israels, mit außerordentlicher Präzision überall in der Region gegen seine Feinde vorgehen zu können.

Wann und wie eine Reaktion erfolgt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Nach dem israelischen Angriff auf ein Konsulatsgebäude in Damaskus am 1. April nahm sich Teheran für eine Reaktion zwei Wochen Zeit. Die Hoffnungen auf eine Beruhigung der Lage sind mit den Ereignissen der letzten Stunden nicht in Erfüllung gegangen. Auch ein Geiselabkommen und ein Waffenstillstand in Gaza sind damit in weite Ferne gerückt. Allerdings sind die Gespräche in den letzten Tagen ohnehin ins Stocken geraten. Beide Seiten werfen sich gegenseitig vor, neue Forderungen aufzustellen, die eine Lösung unmöglich machen.