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Frankreich
Schlappe für Macrons Wahlbündnis?

Das französische Parteiensystem nach dem Wahlzyklus 2022
Der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Wahllokal in Le Touquet, Nordfrankreich, anlässlich der französischen Parlamentswahlen am 19. Juni 2022

Der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Wahllokal in Le Touquet, Nordfrankreich, anlässlich der französischen Parlamentswahlen am 19. Juni 2022

© picture alliance / abaca | Pool/ABACA

Links – Mitte – Rechts, das sind die Koordinaten der politischen Ordnung in Frankreich seit der Französischen Revolution. Zumindest dieses Koordinatensystem blieb den französischen Wählerinnen und Wählern auch nach der zweiten Runde der Legislativwahlen an diesem Sonntag, den 19. Juni, am Ende des Wahlzyklus‘ 2022 erhalten. Auch der neue alte Präsident Emmanuel Macron und seine wichtigsten Widersacher bei den Wahlen, Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon sind seit 2017 gleich geblieben. Dies war es allerdings weitestgehend mit den elektoralen Kontinuitäten. Was hat sich verändert mit Blick auf das politische System Frankreichs?

Keine absolute Mehrheit für Macron – Neuordnung im Parteienwettbewerb

Besonders relevant für den zukünftigen Regierungsalltag und völlig ungewohnt für die jüngere französische Geschichte ist, dass das Macron-Bündnis Ensemble keine absolute Mehrheit bei den Parlamentswahlen gewinnen konnte und nun auf eine dauerhafte oder gelegentliche Zusammenarbeit mit anderen Parteien angewiesen sein wird. Dazu kommt, dass mit dem lagerübergreifenden linken Bündnis Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale (NUPES) und dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) die radikalen Vertreter des linken und rechten Lagers die tatsächlichen Wahlsieger sind; die moderaten Vertreter Parti Socialiste (PS) und Les Républicains (LR) wurden parlamentarisch marginalisiert, wie die Sitzverteilung im künftigen Parlament zeigt.

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Die Tatsache, dass kein Parteienbündnis eine absolute Mehrheit erringen konnte, ist die direkte Folge der neuen Dreiteilung des politischen Systems, wo sich nun im Parlament Linke, Mitte und Rechte gegenüberstehen. Zwar steht Frankreich nun nicht vor einer Kohabitation, also der schwierigen Zusammenarbeit von Premierminister und Präsident aus unterschiedlichen Parteien, doch auch der Umgang mit der Tatsache, aktuell keine Regierungsmehrheit zu haben, dürfte in den kommenden Tagen zu hektischen Gesprächen führen. Schließlich gehört die Bildung von Koalitionen, wie sie in Deutschland die Regel ist, nicht zum üblichen politischen Vorgehen. Es wird sich zeigen, ob Ensemble ein dauerhaftes Bündnis, also eine Art Koalition mit der republikanischen Rechten von (LR) eingehen oder sich Mehrheiten von Fall zu Fall suchen wird. 

Fast in Vergessenheit gerät angesichts dieser „majorité introuvable“ (unauffindbare Mehrheit), dass bereits die Präsidentschaftswahlen und die Zeit bis zu den Parlamentswahlen Neuerungen mit sich gebracht haben: Zum Beispiel, dass die Präsidentschafts-Kandidatinnen der bislang dominierenden Parteien PS und LR je weniger als fünf Prozent der Stimmen erhielten. Eine Premiere war auch, dass neben dem wiedergewählten Vertreter der liberalen Mitte, Emmanuel Macron, mit Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon sowie mit Éric Zemmour nur Vertreterinnen und Vertreter der Extremen im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen mehr als fünf Prozent der Stimmen erhalten haben. Insgesamt zeigte sich hier und auch bei den Parlamentswahlen das Ergebnis eines langfristigen Prozesses, das unter anderem den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die etablierten Vertreterinnen und Vertreter der Politik und das Ende traditioneller Parteibindungen umfasst.

Die neue parlamentarische Arithmetik ist auch Folge der Gründung des unerwarteten parteiübergreifenden Bündnisses NUPES im linken Lager unter Federführung der Radikalen von La France Insoumise mit PS, Parti communiste (PCF) und Grünen (EELV). Das Bündnis könnte – wenn es denn geschlossen bleibt und sich als Fraktion zusammen findet – die zweitgrößte Gruppe im Parlament bilden, hat aber kaum Chancen auf eine strukturelle Regierungsbeteiligung.

Radikale im Vorteil

Die Gründung von NUPES  in der Dynamik des starken Ergebnisses Mélenchons bei den Präsidentschaftswahlen und seiner daraus gefolgerten „Kandidatur“ als Premierminister haben das bisherige Machtgefüge im linken Lager, aber auch die Konkurrenz gegenüber der Rechten auf den Kopf gestellt. Immerhin ist es NUPES gelungen, mit 131 Abgeordneten die zweitgrößte Gruppe an Abgeordneten ins Parlament wählen zu lassen; das Rassemblement National konnte sein Ergebnis im Vergleich zur vorherigen Legislaturperiode mehr als verzehnfachen und erreicht mit 89 Abgeordneten erstmals Fraktionsstärke; dies kommt einem Erdbeben im parlamentarischen Leben der V. Republik gleich, in dem die extreme Rechte bislang keinerlei Bedeutung hatte. Vorausgesetzt der weiteren Einigkeit bei NUPES haben sowohl Les Républicains als auch das Rassemblement National ihre Rollen als wichtigste Herausforderer Macrons verloren und stellen im Parlament nur die dritt- und viertgrößte Fraktion. Das ehemals bipolare politische System ist damit vorläufig dreigeteilt, wobei sich links die Radikalen und rechts die Extremen weitestgehend durchgesetzt haben, während die Mitte von Macron und seinen Verbündeten vertreten ist.

Was Frankreich bewegt - Die französische Parlamentswahl

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Rückschlag für Renaissance

Die Weiterentwicklung der Bewegung En Marche!, die 2016 von Emmanuel Macron gegründet wurde, hin zu „Renaissance“ und deren Zusammenarbeit mit anderen Akteuren des Zentrums im Wahlbündnis „Ensemble“ kann durchaus als logische Fortschreibung der Entwicklungen gedeutet werden. Der Schritt entspricht üblichen Prozessen der Parteientwicklung in Frankreich, wo sich Parteien häufig umbenennen, um neue Phasen symbolisch einzuläuten. Wie dringend dies ist, haben nun auch die Parlamentswahlen gezeigt: Der aktuelle Wahlzyklus bedeutet für Renaissance zwar einen weiteren Schritt zur Etablierung als „normale“ Partei, das Ergebnis der Wahlen ist aber mehr als ernüchternd. Sie hat nicht nur zahlreiche Wahlkreise an NUPES und RN verloren, sie ist auch stärker von ihren Bündnispartnern Mouvement Démocrate und Horizons abhängig. Dazu kommt, dass zahlreiche bekannte Gesichter der „Macronie“, wie die Parteifreunde Macrons genannt werden, abgewählt wurden, was einer Ohrfeige für die bisherige Regierung gleichkommt.

In der anstehenden Legislaturperiode stehen dabei drei wichtige Herausforderungen für Renaissance an: Die Partei muss sich Stück für Stück von ihrem Gründer emanzipieren, die lokale Implementierung verbessern und eine thematische Schärfung vollziehen. Ohne Macron erscheint ein rein personalisierter Wahlkampf wie 2022 jedenfalls sowohl bei den zukünftigen Regional-, Kommunal- und Europawahlen- als auch bei den nächsten Präsidentschaftswahlen kaum denkbar; darüber hinaus haben bereits die Parlamentswahlen gezeigt, dass dies keine erfolgversprechende Strategie (mehr) darstellt. Ein Weg könnte dabei das Ausspielen der post-modernen Spaltungslinien (sog. cleavage) sein, mit dem sich Renaissance bzw. En Marche! seit der Gründung in der Mitte von den radikalen Vertretern des linken und rechten Lagers abgrenzt und gleichzeitig den Moderaten links und rechts Stimmen abspenstig macht. Angesichts der nun anstehenden Kompromissbildung im Rahmen einer Koalition oder von punktuellen Bündnissen scheint eine solche inhaltliche Schärfung allerdings besonders schwierig zu sein.

Eine weitere wichtige Herausforderung wird die personelle Neuaufstellung sein. Nach der Gründung haben sich bereits in der letzten Legislaturperiode Persönlichkeiten herauskristallisiert, die hinter bzw. neben dem Präsidenten in der Öffentlichkeit standen. Mit dem nunmehr ehemaligen Parlamentspräsidenten Richard Ferrand und dem Fraktionsvorsitzenden Christophe Castaner wurden allerdings zwei der bekanntesten unter ihnen nicht wiedergewählt. Der beliebteste unter ihnen ist der ehemalige Premierminister Édouard Philippe, der mittlerweile allerdings selbst mit Horizons eine eigene mit Renaissance verbündete Partei gegründet hat. Inwiefern diese Renaissance in Zukunft Konkurrenz machen wird und ob Philippe als Nachfolger Macrons oder als Konkurrent potenzieller Renaissance-Kandidaten auftreten könnte, ist noch völlig unklar. Angesichts der Tatsache, dass für Emmanuel Macron eine Wiederwahl 2027 verfassungsrechtlich nicht möglich sein wird und einige ihrer wichtigsten Vertreter nicht wiedergewählt wurden, ist Renaissance jedenfalls dringend aufgerufen, (weitere) neue Persönlichkeiten ins Rampenlicht zu stellen, die dann das Erbe Macrons antreten könnten.

Neue Linksfront wird Macrons Bewegung als Opposition entgegenstehen

Die schnell erfolgreiche Gründung von NUPES unter Federführung von Jean-Luc Mélenchon im linken Lager war so vor den Parlamentswahlen nicht erwartet worden: Nicht nur, weil Mélenchon noch wenige Monate zuvor in der radikalen Linken keine Einigung bezüglich einer gemeinsamen Präsidentschaftskandidatur hatte erzielen können, sondern auch, weil es ihm gelungen ist, NUPES gemeinsam mit den Moderaten und Grünen im linken Lager zu bilden. Ob diese Konstruktion trotz nennenswerter Parlamentspräsenz in der Praxis politisch tragen und als geschlossene Oppositionsfraktion agieren wird, ist jedoch noch völlig offen.

Die Sozialisten jedenfalls sind nur dank des Bündnisses auf eine halbwegs ansehnliche parlamentarische Präsenz gekommen und profitieren davon, dass die Flucht unter den Deckmantel eines potenziell nicht dauerhaften Bündnisses ihnen zumindest akut das Überleben durch Fraktionsgröße und Parteienfinanzierung und damit die Chance auf Rundumerneuerung bietet.

Denn dass diese insbesondere für die PS bitter nötig ist, verleugnet mittlerweile niemand mehr in ihren Reihen; höchstens diejenigen, die sowieso vom Untergang der Partei ausgehen. Der PS gelingt es seit Jahren nicht mehr, die traditionelle Arbeiterschaft anzusprechen, sie hat die Anbindung an diese verloren. Viele ihrer Wählerinnen und haben sich der radikalen Linken oder dem rechtsextremen Front National zugewendet. Letzterem ist es zuletzt immer stärker gelungen, mit seinem Sozialpopulismus insbesondere Angehörige sozial schwacher Schichten anzusprechen. Zuletzt hat die PS darüber hinaus bei den links-liberalen Wählerinnen und Wählern, die sie zumindest bis 2012 noch zum Teil gewählt haben, ebenfalls jegliches Vertrauen verloren. Diese haben sich entweder der radikalen Alternative Mélenchon oder aber dem liberalen und pro-europäischen Macron zugewandt. Für die Bevölkerung scheint das aktuelle politische Angebot der PS schlicht überflüssig geworden zu sein; andere, innovativere Akteure sind in die Bresche gesprungen und verkörpern linke und/oder sozialliberale Inhalte und Werte offenbar glaubwürdiger. Darüber hinaus klebt ihnen als neue bzw. Oppositionsparteien nicht der Nimbus an, verantwortlich für die seit Jahren empfundene wirtschaftliche und politische Krise zu sein, die zu einem Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in etablierte Parteien, aber auch Institutionen und die Demokratie selbst geführt hat.

Regierungspakt oder Bedeutungslosigkeit der Republikaner

Eine Rundumerneuerung scheint auch in der traditionellen Rechten angesichts der Wahlniederlage bei den Präsidentschaftswahlen und des Ergebnisses des RN dringend nötig. Nachdem schon François Fillon 2017 nicht in den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen hatte einziehen können, gelang es 2022 nur zähneknirschend, sich hinter der gemeinsamen Kandidatin Valérie Pécresse zu vereinigen, deren desolates Ergebnis dann ihren Kritikerinnen und Kritikern Recht geben sollte. Die Richtungsstreitigkeiten, die die Partei seit dem Ende der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys beschäftigen, haben schon häufiger eine Spaltung erwarten lassen und könnten nun angesichts der Frage eines potenziellen Bündnisses mit Macron eskalieren. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Republikanern um ein Kunstgebilde aus unterschiedlichen Parteifamilien handelt, das 2002 unter dem Eindruck der Stärke des damaligen Front National entstanden ist, ist dies nicht sehr überraschend. Von der traditionell (neo-)gaullistischen Partei scheint dabei kaum etwas übrig zu sein, die Mitglieder und Parteigranden flottieren zwischen Zusammenarbeit mit oder gar einem Übertritt zu Renaissance und Sympathien zu Éric Zemmours Reconquête-Bewegung. Viele Liberal-Konservative haben der Partei bereits zugunsten der Regierungspartei den Rücken gekehrt und einzelne prominente Vertreter rufen nach einer Zusammenarbeit mit Ensemble, um die eigenen Relevanz zu sichern; immerhin finden sich in dessen Reihen nicht wenige ehemalige Bündnispartner und Parteiangehörige. Sollten die Républicains als Koalitionspartner Macrons Mehrheitsbeschaffer werden, würde dies vermutlich als Beschleuniger einer eventuellen Spaltung wirken (- diese erscheint durchaus wie eine Art Ironie der Geschichte, waren doch bis 2017 die Zentrumsparteien die potenziellen Mehrheitsbeschaffer der Regierenden im linken und rechten Lager). Nach dem durchwachsenen Abschneiden bei den Parlamentswahlen, das zu einer Fraktion mit 61 Abgeordneten führt, stellt sich einmal mehr die Frage nach der politischen Zukunft der Konservativen in Frankreich.

Auf dem Weg zur VI. Republik?

So muss der Wahlzyklus 2022 als Meilenstein im Wandel des politischen Systems Frankreichs interpretiert werden. Das vorläufige Ende der bipolaren Ordnung hat den strukturgebenden „fait majoritaire“ (französischer Fachbegriff für die Tatsache, dass die Regierungen von stabilen Parlamentsmehrheiten unterstützt werden), verhindert, der bislang als besonders Markenzeichen der V. Republik gelten konnte und eine relativ hohe Stabilität der Regierungen mit sich brachte. In der Folge sind eine schwierige Regierungsbildung und wechselnde Mehrheiten zu erwarten. Das bislang strukturkonservierende Wahlsystem hat nur an wenigen Orten seinen bisherigen Effekt behalten, wo gut verankerte Lokalmatadoren aus den ehemaligen Regierungsparteien wiedergewählt werden konnten. Auch die vor wenigen Jahren eingeführte „Umkehrung des Wahlkalenders“, wodurch das Parlament wenige Wochen nach den Präsidenten gewählt wird, hat nicht den erwarteten Effekt gezeigt; der neu gewählte Präsident konnte sich keine absolute Mehrheit sichern. Die neue Tripolarisierung wird die Spielregeln des Politikmachens in Frankreich verändern, ja möglicherweise eine Verfassungsänderung auf dem Weg zur VI. Republik vorweg nehmen. Es wird sich zeigen, welche der politischen Kräfte dem gewachsen sein werden. Alle im Parlament vertretenen Parteien stehen großen Herausforderungen gegenüber, die von der weiteren Etablierung bis zur Verhinderung der völligen Bedeutungslosigkeit reichen. Wem die Bewältigung dieser Herausforderungen am besten gelingt, dürfte bei den Wahlen 2027 ein wichtiges Wörtchen mitzureden haben.

 

Gastbeitrag von Dr. Daniela Kallinich.