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Wirtschaft
Gastgeber mit viel Potenzial

G20 in Indien
India Gate with G20 Logo

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© sun911 for Getty images via Canva pro

Wenn sich die Staats-und Regierungschefs am 9. und 10. September 2023 zum 18. Gipfel der G20 in Goa treffen, dürfte Gastgeber Narendra Modi zu den gefragtesten Gesprächspartnern gehören: als Verbündeter in einer geopolitisch herausfordernden Zeit und als Vertreter einer Wirtschaftsmacht, die mit beeindruckenden Superlativen punktet. War Indien zu Beginn von Modis Regierungszeit im Jahr 2014 die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt, liegt sie heute bereits auf Rang fünf und hat sogar die einstige Kolonialmacht Großbritannien hinter sich gelassen. Bis zum Ende des Jahrzehnts werde der Subkontinent an die dritte Stelle vorrücken und damit Deutschland überholen, sagen Experten voraus. Ein weiterer Rekord sorgt für Schlagzeilen: Indien hat China in diesem Jahr laut UN als bevölkerungsreichstes Land der Erde mit 1,425 Milliarden Einwohnern abgelöst. Gleichzeitig wird die Wirtschaft kritischer. Galt China lange Zeit als unverzichtbarer Produktionsstandort, sorgt heute der Taiwan-Konflikt dafür, dass sich immer mehr Konzerne nach Alternativen zu China (China Decoupling) umsehen und fündig werden. Siemens, Airbus, Deutsche Bahn, Skoda, Apple sind nur einige Konzerne, die jüngst Mega-Aufträge bzw. -Investitionen ankündigten. Und das ist ganz im Sinne der aktuell drittgrößten Volkswirtschaft Asiens, die ihre Importabhängigkeit verringern und im Rahmen des Make in India-Programms auch mit Investitionsanreizen die Produktion vor Ort für den heimischen Markt steigern will.

 

Das konsequente Umsetzen großer wirtschaftspolitischer Reformen trägt für Dhananjay Tripathi entscheidend dazu bei, dass sich Indien während des G20-Gipfes als zukunftsträchtiger Standort präsentieren kann. Zu den wichtigsten zählt der Associate Professor & Chairperson an der South Asian University in New Delhi die GST-Reform (Mehrwertsteuerreform), die seit dem Jahr 2017 nach anfänglichen Startschwierigkeiten das Steuersystem erheblich vereinfacht hat. Neben einem neuen Insolvenzgesetz und einer moderneren Arbeitsgesetzgebung habe die Regierung unter Modi die Digitalisierung vorangetrieben, auch im Bereich des Zahlungsverkehrs. „Selbst bei sehr kleinen Lebensmittelhändlern können die Kunden heute digital bezahlen.“ Schätzungen zufolge hätten heute rund 80 Prozent der Bevölkerung ein Bankkonto und könnten deshalb einfacher als früher zum Beispiel Transferleistungen vom Staat beziehen. Das Ende der zuvor bargeldbasierten Wirtschaft habe auch den Umlauf von Schwarzgeld eingedämmt.

Punkten kann das Land laut Tripathi zudem mit einer großen konsumfreudigen Mittelklasse, die heute größer sei als die Bevölkerung der EU mit ihren gut 447 Millionen Menschen. Die aus seiner Sicht zum Teil zwar immer noch schlechte Infrastruktur hat sich in der Vergangenheit aber verbessert. „Wenn ich vor zehn Jahren von Delhi nach Agra gefahren bin, hat die Reise auf schlechten Straßen mindestens sechs Stunden gedauert. Heute ist es in zwei Stunden zu schaffen.“ Neben der boomenden IT-Industrie hat auch der Gesundheitssektor deutlich aufgeholt. „Heute kommen Patienten aus dem Ausland nach Indien, um sich hier behandeln zu lassen.“ Indien ist u.a. zum größten Impfstoffproduzenten der Welt aufgestiegen, gilt deshalb als „Apotheke der Welt“. Auch Deutschland kauft vermehrt kostengünstige Generika auf dem Subkontinent ein. Unter seinen wichtigsten Handelspartnern rangiert Indien bei den Importeuren auf Rang 24, bei den Exporten auf Platz 22. Erstmals seit 2003 führte Deutschland im vergangenen Jahr mehr Waren aus Indien ein (zu 15,8 Mrd. US-Dollar) als dorthin ausgeführt wurden (zu 15,6 Mrd. US-Dollar).

Trotz erfolgreicher Reformen muss das Land große Herausforderungen meistern. Zu ihnen zählt der Wissenschaftler die Arbeitslosenquote von aktuell 7,8 Prozent. „Indien braucht zweistellige Wachstumsraten, um ausreichend Jobs für Schul- und Hochschulabgänger zu schaffen.“ Schon heute gebe es eine zunehmende Ungleichheit zwischen wohlhabenderen und armen Schichten. Die wachsende Bevölkerung muss versorgt werden.Der Druck auf die Infrastruktur etwa für Transport, Gesundheitsversorgung, Bildung nimmt zu. Auch die Luftverschmutzung sei, allen voran in der Hauptstadt Neu-Delhi, bereits heute dramatisch hoch. „Wenn es gelingt, die Probleme zu lösen, wird Indien von seiner demografischen Dividende profitieren.“ 2022 lag der Altersmedian bei geschätzt 27,9 Jahren, in Deutschland bei 45,9 Jahren. „Wenn die Welt alt wird, ist Indien noch jung.“

Sorgen bereiten Tripathi die anhaltenden Grenzkonflikte mit China. Während des G20-Gipfels werde Indien sein Interesse an einer regelbasierten multilateralen Weltordnung unterstreichen und sich als zuverlässiger Partner positionieren. Anders als China sei es Indien gelungen, seit der Staatsgründung im Jahr 1947 – mit Ausnahme der Jahre des Ausnahmezustandes unter Indira Gandhi (1975 – 1977) - das demokratische System aufrechtzuerhalten.

Ob Indien tatsächlich der weitere Aufstieg gelingt, wird auch davon abhängen, ob das Land Schwächen wie die allseits gefürchtete Bürokratie, Korruption, langwierige Rechtsdurchsetzung sowie die zu große Importabhängigkeit bei Vorprodukten und Rohstoffen – wichtigster Lieferant von Öl, aber auch Waffen ist zum Beispiel Russland – in den Griff bekommt. Und die Nation, die so stolz auf den Superlativ „Größte Demokratie der Welt“ verweist, belegt in der von Reporter ohne Grenzen jährlich erhobenen Rangliste der Pressefreiheit 2023 weit abgeschlagenen Rang 161 unter 180 Staaten. Binnen nur eines Jahres rutschte Indien sogar noch um elf Plätze ab. Auch diese Themen dürften am Rande des G20-Gipfes eine Rolle spielen.