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Rebellin aus Überzeugung
Die Journalistin und ehemalige Parlamentsabgeordnete Gayane Abrahamyan im Kampf für eine bessere Zukunft, Justizreformen und Sensibilisierung für häusliche Gewalt in Armenien.
Die armenische Politikerin, Journalistin und Aktivistin Gayane Abrahamyan kämpft seit langem für eine Vielzahl von Zielen, die von überfälligen Justizreformen bis hin zur Sensibilisierung für häusliche Gewalt reichen. Bei ihrer Arbeit stellt sie sich dem Status quo in ihrem Land und der abschätzigen Rhetorik, die oft von den Männern an der Macht stammt, entgegen. „Ich möchte Ihnen zeigen, dass es keine Grenzen gibt, für das was eine Frau oder ein jeder anderer tun kann“, sagte sie. Ihre Arbeit und ihr Leben sind zweifellos ein Fallbeispiel dafür, was man erreichen kann, trotz eines Umfelds, welches für Frauen in der Politik nicht wirklich förderlich ist.
1979 geboren, gehört sie zu der Generation, die 1991 die Unabhängigkeit ihres Landes von der UdSSR miterlebte, aber sodann fortwährenden Herausforderungen beim Aufbau einer gesunden Demokratie gegenüberstand. All dies in einer Region, in der Konflikte auf eine Weise ausbrachen, die Generationen von Armeniern so schmerzlich bekannt sind, was westliche Leser überraschen mag.
Bevor sie in die Politik ging und sich der zentristischen Bewegung „My Step Alliance“ anschloss, hatte sich Abrahamyan als Journalistin in Presse, Internet und Fernsehen profiliert. Ihre Medienerfahrung erstreckt sich auf zwei Jahrzehnte; 2008 wurde sie als „Beste politische Journalistin“ ausgezeichnet, beteiligt sich an Schulungen und Beratung anderer Journalisten. Mitte der 2000er Jahre gehörte sie zu jenen Journalisten, die das Thema der häuslichen Gewalt in Armenien in den Fokus rücken und eine Sensibilisierung dafür schaffen wollten.
„Als ich 2006 anfing, über häusliche Gewalt zu schreiben und zahlreiche Fälle berichtete, bat ich die Behörden, Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Die Antwort der Behörden war jedoch schlicht, dass es in Armenien keine häusliche Gewalt gebe. Nicht nur, dass es häusliche Gewalt gab, sie war auch weit verbreitet und wurde als normaler Bestandteil des Familienlebens angesehen.“
Abrahamyan ist zumindest ein wenig dahingehend erleichtert, dass diese absolute Verleugnung einem gewissen Zugeständnis gewichen ist. 2017 wurde ein Gesetz zur Verhinderung häuslicher Gewalt verabschiedet. „Erst in den letzten zwei Jahren wurden staatliche Schutz- und Präventionsprogramme implementiert. Trotzdem gibt es noch viel zu tun und es ist schwierig, die Öffentlichkeit zu informieren, da fake news und manipulative Äußerungen aus nationalistischen und konservativen Kreisen kursieren.“
Im Laufe der Jahre setzte sie sich aktiv dafür ein, mehr Licht und Klarheit in diese Themen zu bringen. Abrahamyan war an Medienkampagnen und Bildungsprojekten beteiligt, darunter für die NGO „For Equal Rights“. „Als Journalistin, als Leiterin einer Nichtregierungsorganisation und als Abgeordnete habe ich dieses Problem immer wieder aufgeworfen, nicht nur um Opfer zu schützen, sondern mittels Bildung die Kultur der Gewalt zu durchbrechen.“ Das Gebäude, in dem die NGO ihren Sitz hat, war aufgrund ihrer Tätigkeit mehrfach das Ziel von Angriffen. „Aber der Schutz der Menschenrechte hat für uns Priorität und wir werden nicht aufgeben."
Eriwan wurde nicht an einem Tag gebaut
Es gibt einen gewissen „Vorher-Nachher-Effekt“, wenn sie über ihre Projekte spricht. Der Wendepunkt dabei war die Armenische Revolution von 2018, eine Protestbewegung gegen die dritte Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Serzh Sargsyan, Führer der Republikanischen Partei, als Premierminister, welcher schließlich zurücktrat. Wegen der großen Beteiligung an diesen Demonstrationen und ihres friedlichen Charakters werden die Proteste in Armenien oft als Armeniens „Samtene Revolution“ bezeichnet. Die Bewegung brachte den derzeitigen Premierminister Nikol Pashinyan von der „Civil Contract Party“ sowie die „My Step Alliance“ hervor.
Abrahamyan beschloss, sich nach dieser Protestwelle aktiv in der Politik zu engagieren, da sie in dieser Bewegung ein wichtiges Instrument im Kampf gegen Korruption und der Reform des Justizsystems sah. „Ich war bereit, mich dieser Bewegung anzuschließen, da ich davon überzeugt war, dass dies eine historische Chance für unser Land ist, eine echte Demokratie aufzubauen.“ Sie wusste, dass dieser Neuanfang nicht einfach sein würde. „In die armenische Politik zu gehen ist per se eine Herausforderung, da die politische Kultur noch nicht ausgereift ist und ihre kriminell-oligarchische Prägung enorme Anstrengungen erfordert, um eine bestimmte Kultur, Denkweise sowie eine sachliche Debatte über politische Themen zu etablieren.“
Abrahamyans lange Karriere als Journalistin und ihre neue Rolle als Politikerin in einer Partei, die die vorgezogenen Wahlen von 2021 gewann, tragen dazu bei, die Probleme in Armenien aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Sie sagt, dass die bisherigen politischen Akteure, die sich nun in der Opposition befinden, immer noch einen großen Einfluss auf die Medien des Landes ausüben. „Die Verbreitung von Fake News, manipulativen Informationen und Hassreden hat dramatisch zugenommen und führt oft zu Menschenrechtsverletzungen. Dies stellt eine potentielle Bedrohung für die nationale und öffentliche Sicherheit dar. Im vergangenen Jahr habe ich als Abgeordnete mit der Ausarbeitung eines Gesetzes über die Transparenz von Finanzen und Eigentum der Medien begonnen, aber der Gesetzesvorschlag ist nicht angenommen worden. Ich hoffe, dass dies in naher Zukunft geschehen wird, da das Problem ein sehr ernsthaftes ist. Es gibt keine Transparenz.“
Sie glaubt, dass die Stimmen bezüglich des politischen Systemwechsels oft von jenen gekapert werden, die, wie sie sagt, „das korrupte und autoritäre System wiederbeleben“ wollen.
Daraufhin wurde Abrahamyan angefeindet und bedroht, vor allem, da sie für die Erneuerung des Justizsystems einsteht. „Ich war bereit, mich zu wehren. Drei Jahre lang war ich als einer der aktivsten Abgeordneten das häufigste Ziel von Anfeindungen, meine Familie wurde oft eingeschüchtert und ich erhielt sogar Todesdrohungen. Ich habe große Schwierigkeiten erwartet und weiß, dass die ehemalige Machtelite sich auf heimtückische Weise zu rächen versucht.“
Resignation einer Revolutionärin
Wenn Abrahamyan all diese Herausforderungen vorhersehen konnte, waren diese Entwicklungen dann für sie überraschend? „Eines habe ich nicht erwartet, dass ich selbst in den Reihen der Regierung derart kämpfen müsste.“ Trotz der Veränderungen erkennt sie, dass das hergebrachte Regierungsgebaren weiterhin in den Köpfen einiger Mitglieder unverändert blieb. „Was die Werte angeht, so folgt das System immer noch den Prinzipien eines korrupten Staatswesens, welches sich sämtlicher Reformierung verschließt, von dem wir dachten, wir hätten es hinter uns gelassen. Es wurde umso schwerwiegender, als klar wurde, dass unser revolutionäres Team sich von seinen demokratischen Werten und Prinzipien entfernte. Ich muss zugeben, dass ich dies nicht bekämpfen konnte.“
„Im Parlament zu sitzen machte für mich keinen Sinn mehr, weil mein Hauptziel – die Justizreform – nicht zu erreichen war.“ Meinungsverschiedenheiten mit ihren Kollegen von der „My Step Alliance“ führte am 25. September 2020 zu ihrem Rücktritt.
Sie sah, dass die Partei bei der Umsetzung der Justizreform an Elan verlor, da diese von Leuten durchsetzt war, die nach ihren Worten, das einstige korrupte System auf die nächsten Jahrzehnte zementiert hatten. Sie kündigte zwar ihren Rücktritt an, entschied sich aber dennoch an Bord zu bleiben, da sich der Berg-Karabach-Konflikt, der langjährige ethnische und territoriale Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, am 27. September 2020 erneut entzündete. Sie beschloss zu bleiben und weiterzumachen „So forderte es auch die Gesellschaft, da ich die armenische Delegation zur Parlamentarischen Versammlung EURONEST geleitet habe, der EU-Plattform für die Länder der Östlichen Partnerschaft. Ich hatte ein weitverzweigtes Netzwerk und verschiedene internationale Plattformen, über die ich dieses Problem vermitteln konnte.“
Friedensstifterin während des Krieges
Als die Kämpfe am 9. November eingestellt wurden, kündigte sie am 19. November ihren zweiten und endgültigen Rücktritt an, gepaart mit Frustration und der Erkenntnis, wie wenig Einfluss sie als Abgeordnete ausüben kann.
„Der Rücktritt erfolgte aufgrund der Unreife des parlamentarischen Systems. Entscheidungen werden hier im Wesentlichen von nur einer Person getroffen, und das Parlament billigt diese grundsätzlich. Wie sich herausstellte, war das Parlament im Grunde eine Plattform, um Probleme zu schaffen, anstatt sie zu lösen.“
Da der Krieg während ihres Lebens stets gegenwärtig war, hat jetzt ein besseres Verständnis für die Rolle des Krieges im modernen Armenien. Sie glaubt, dass der Berg-Karabach-Konflikt während der gesamten Phase der Unabhängigkeit Armeniens, auch in Momenten, in denen die Demokratie gefestigt schien und grundlegende Freiheiten gewährleistet waren, eine zentrale Rolle bei der Formung der Identität des Landes, des gemeinsamen politischen Diskurses, der Errichtung staatlicher Institutionen sowie sämtlicher Phasen der Fortentwicklung gespielt hat.
Abrahamyan sieht den Konflikt und die letzten 30 Jahre der Unabhängigkeit als einen Moment für die Öffentlichkeit, darüber nachzudenken, was falsch gemacht wurde und welche Lehren daraus gezogen werden konnten.
„Die wichtigste Erkenntnis, die wir haben müssen, ist, dass es uns nicht gelungen ist, demokratische Institutionen zu schaffen und zu implementieren, einschließlich eines echten Gleichgewichts zwischen diesen und die liberale Demokratie als Katalysator für die Entwicklung des Landes zu stärken.“
Als Frau in der armenischen Politik
„Stereotypen dominieren immer noch die armenische Gesellschaft - Frauen unterliegen in allen Bereichen beständigem Druck.“ Für Abrahamyan war dieser Druck in der Politik am deutlichsten zu spüren. „Die größte Herausforderung sind die höheren Hürden, die Frauen im Vergleich zu Männern zu bezwingen haben. Weiblichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens werden nicht einmal kleinste Fehler verziehen. Ihnen wird mehr Professionalität und Aktivität abverlangt. Das ist natürlich jedoch nicht nur in Armenien Realität.“
Jedoch gibt es auch eine andere Seite der Medaille. „In der Politik habe ich gemerkt, dass die Gesellschaft zwar mehr von den Frauen verlangt, aber auch ein höheres Vertrauen zu ihnen hat.“ Das Vertrauen in Politikerinnen hat in den letzten Jahren zugenommen. Eine Umfrage aus dem vergangenen Jahr ergab, dass 45 Prozent der Befragten bereit sind, eine Frau als potenzielle Führungspersönlichkeit des Landes zu akzeptieren. „In Armenien gibt es einen neuen Trend, von dem ich hoffe, dass dieser noch stärker wird.“
Dieser Trend spiegelt ihre Wahrnehmung des Landes wider: „Nach meinem Rücktritt habe ich viele Briefe von Menschen erhalten, die nicht nur meine Rückzug aus der Politik bedauerten, sondern darauf bestanden, dass ich weiter arbeite und eine Führungsrolle im Land übernehme. Derartige Stimmen waren vor einigen Jahren noch undenkbar.“