Human rights
Die unhörbaren Stimmen aus Pata Rât

Waste Side Story Oper
© Nicu CherciuAm 10. Mai 2024 erlebte die Kulturszene Rumäniens ein außergewöhnliches Ereignis: Die Premiere der hybriden Oper „Waste Side Story“ in Cluj-Napoca. Diese innovative Produktion verband Elemente von Jazz, Kabarett und neoromantischer Arie und rückte ein brisantes gesellschaftliches Thema ins Rampenlicht – die Verletzung der Menschenrechte und Diskriminierung der Roma-Minderheit. Das Büro für Rumänien und Republik Moldau der Stiftung zählte zu den Trägern der Vorstellung.

Premiere von Waste Side Story an der Rumänischen Nationaloper Cluj-Napoca
© Nicu CherciuPata Rât: Ein Symbol der Marginalisierung
Pata Rât, nur sieben Kilometer von der siebenbürgischen Stadt Cluj-Napoca (dt. Klausenburg) entfernt, ist Europas größtes Ghetto, das in unmittelbarer Nähe einer Müllhalde eingerichtet worden ist. Rund 2.500 Menschen leben hier seit mehr als 50 Jahren dauerhaft unter menschenunwürdigen Bedingungen, über 70 Prozent von ihnen sind Roma, mehr als 1.000 Kinder nennen Pata Rât ihr Zuhause. Obwohl es auf seinem Grund liegt, existiert für die Stadtverwaltung von Cluj-Napoca der Stadtteil Pata Rât nicht, weder für die Einwohner von Cluj-Napoca noch für die übrigen Bürger des Landes. Die Menschen dort leben in bitterer Armut, ohne Adresse, ohne Zugang zu fließendem Wasser, Kanalisation oder Erdgas. Hinzu kommt die Verschmutzung durch Deponiegase.

Auf der Bühne bringen die Kinder von Pata Rât zusammen mit der Sopranistin Ana Stănescu die harte Realität ihrer Gemeinschaft zum Ausdruck - eine gemeinsame Stimme für Fairness und Akzeptanz.
© Nicu CherciuKunst als Spiegel der Gesellschaft
„Waste Side Story" war ein Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts Bukarest, der Alt Art Stiftung, der Nationaloper Cluj-Napoca und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Rumänien und Republik Moldau, das die Schaffung einer neuen Oper zum Ziel hatte. Die Kooperation zeigte, wie internationale und lokale Akteure gemeinsam mit den Mitteln der Kunst gesellschaftliche Veränderungen gegen Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung der Roma-Minderheit anstoßen konnten. Die Vorstellung sorgte für einen Riesenerfolg und war bei der Premiere im 1.000 Plätze großen Saal ausverkauft.
„Waste Side Story“ nutzt die universelle Sprache der Musik, um die unhörbaren Stimmen von Pata Rât hörbar zu machen. Regisseur Dan Vasile und Drehbuchautorin Mara Căruțașu schufen ein Werk ohne linearen Plot, dafür aber mit umso mehr Tiefgang. Die Inszenierung beginnt mit einem Protest der Müllsammler gegen eine weitere bevorstehende Zwangsräumung, wobei die Behörden durch Stadtpolizisten dargestellt werden. Die Geschichte entwickelt sich durch den Rückblick auf die dramatische Zwangsräumung im Jahr 2010 zu einer eindringlichen Anklage und einem Aufschrei gegen soziale Ungerechtigkeit und Verstoß der grundlegenden Menschenrechte
Mara Căruțașu hat zahlreiche Interviews mit den Bewohnern von Pata Rât geführt und die Aussagen der Bewohner als dokumentarische Quellen für das Libretto benutzt. Sie beschreibt, wie schwer die Erzählungen zu verkraften waren. „Ich wollte ihre Seele einfangen, ihre Bescheidenheit, ihre Scham. Viele von ihnen haben wiederholte Zwangsräumungen erlebt - ein Generationentrauma, das ein tiefes Misstrauen in die Gesellschaft, in Gerechtigkeit und Fairness geschaffen hat“, sagt sie.
Die Realität auf der Bühne
Besonders bewegend war die Einbeziehung der Roma selbst in die Produktion. Erwachsene, Jugendliche, sogar Kinder mit Plüschtieren und Babys auf dem Arm standen auf der Bühne. Viele von ihnen betraten zum ersten Mal in ihrem Leben ein Opernhaus. Doch ihre anfängliche Scheu verflog schnell, als sie merkten, dass es hier um ihre eigenen Geschichten ging und dass sie hier ihre Geschichten zur Musik zu erzählen konnten.
Man hätte sagen können, dass das Zusammentreffen von professionellen Opernsängern und Instrumentalisten mit den Bewohnern von Pata Rat auf der Bühne das perfekte Rezept für Chaos hätte sein dürfen. Indes nahm die ganze Geschichte harmonisch Gestalt an, rund um die ungeheuerliche Episode der Zwangsräumung von Roma aus der Coastei-Straße in Cluj-Napoca im Winter 2010 an. Das was die wohl bekannteste Zwangsevakuierung und ereignete sich im Dezember, als eine gesamte Straße evakuiert und ca. 350 Menschen in unmittelbarer Nähe zur Deponie untergebracht wurden – nur eine Woche vor Weihnachten.

Roma-Jugendliche und -Kinder auf der Opernbühne erzählen ihre Geschichte - das Alter spielt keine Rolle, wenn man Alarm für soziale Integration schlägt.
© Nicu CherciuEin Weckruf an die Gesellschaft
Die Oper war mehr als ein Kunstprojekt. Sie ist ein Weckruf an soziale Inklusion, ein Appell an die Gesellschaft und die Behörden von Cluj-Napoca, die Wohn- und Gesundheitsrechte der zwangsumgesiedelten Bürger, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu respektieren. Amnesty International und andere Organisationen wie das European Roma Rights Center haben bereits in der Vergangenheit auf die Missstände in Pata Rât aufmerksam gemacht und die unzureichenden Maßnahmen der Behörden kritisiert. Die künstlerische Darstellung der Realität in Pata Rât führte dem Publikum eindrücklich vor Augen, dass hinter jeder Statistik ein Mensch, hinter jedem Namen ein Schicksal steht.
„Waste Side Story“ forderte das Publikum dazu auf, die bequeme Komfortzone zu verlassen und sich mit den unbehaglichen Wahrheiten der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen.
Eins ist es, was am Ende des Tages in der Stadt mit der höchsten Lebenskosten Rumäniens, Cluj, übrig bleibt. Etwas anders ist die Roma-Gemeinschaft, die dort lebt und die in gewisser Weise das ist, was übrig bleibt, wenn das soziale Make-up entfernt wird. Für diese Gemeinschaft zeigt die Gesellschaft manchmal die Tendenz zur Wiedergutmachung, entwickelt aber nie eine langfristige Strategie. In Waste Side Story geht es um Geschichten, die wir in den Müll werfen, weil es bequemer ist. Und hinter jeder Geschichte steht ein Leben. Und jedes Leben zählt
In der Sendung „Freier Zutritt“ des Öffentlichen Kulturkanals sprach Projektleiter Raimar Wagner mit anderen geladenen Gästen über die politische Rolle der Kultur, die in diesem Fall ein Warnsignal an die Politik sendet, welche sich um seine eigenen Bürger nicht kümmert, und dadurch als direkter Effekt, diese vom Arbeitsmarkt fernhält.
Die Oper wurde vom rumänischen Öffentlichen Kulturkanal übertragen und kann unter diesem Link verfolgt werden.
Die Sendung des Kulturkanals zum Making of, kann hier verfolgt werden. Untertitel können automatisch auch in deutscher Sprache generiert werden.