EN

Soziale Marktwirtschaft
Corona-Hilfen: Jetzt regiert die soziale Staatswirtschaft

Sonnenuntergang am Hamburger Hafen
Sonnenuntergang am Hamburger Hafen: Im Zuge der Pandemie werden die Fundamente der Marktwirtschaft zertrümmert © Getty Images/Westend61

Bürokraten in Berlin und Brüssel zersetzen mit billionenschweren Rettungspaketen den Leistungswillen. Der Unmut wird gären, die Steuermoral schwinden, das Verständnis fürs große Ganze verloren gehen. Und: Wie weit kann die Großzügigkeit künftig gehen? 

Die soziale Staatswirtschaft hat das Kommando übernommen. Kompromisslos hat sie Marktwirtschaft und Kapitalismus außer Betrieb gesetzt. Bürokraten in Berlin oder Brüssel haben das Sagen. Sie und nicht mehr Kunden vor Ort entscheiden heutzutage, welche Unternehmen überleben, wer mit welchen Liquiditätsspritzen gerettet und wer sich selbst überlassen wird. Sie bestimmen, wer systemrelevant sei, und nicht etwa die Bereitschaft der Verbraucher, für Güter und (Dienst-)Leistungen kostendeckende Preise zu bezahlen.

Frisches Kapital ist nicht nur in nahezu unbeschränktem Umfang kostenlos zu haben. Nein, die Europäische Zentralbank (EZB) stellt Grundgesetze des Kapitalismus mit dem neuen Anleihekaufprogramm PEPP sogar vom Kopf auf die Füße. Wenn sich Geschäftsbanken Geld bei der EZB leihen, müssen sie momentan nicht etwa dafür bezahlen.

Das Geschenk der EZB ließ die Aktionäre der Banken jubeln

Sie werden mit einer Prämie von bis zu einem Prozent der aufgenommenen Kreditebelohnt. Wen wundert es, dass sich da im Juni 2020 Geschäftsbanken mit dem Rekordbetrag von 1,3 Billionen Euro mit neuem Kapital eingedeckt haben?

Ohne eigene Anstrengungen ließen sich so für die Geschäftsbanken bis zu 13 Milliarden Euro „verdienen“. Ein Geschenk der EZB, das bei gut aufgestellten Banken die Aktionäre jubeln ließ. Bei darbenden Kreditinstituten ohne überlebensfähiges Geschäftsmodell jedoch hilft es bestenfalls, den Untergang etwas hinauszuzögern. Mit Kapitalismus hat ein derart von allen realen Risiken abgeschirmter Kreditmarkt jedoch überhaupt nichts mehr zu tun.

Was erschüttert, ist, mit wie viel Gleichmut und Gleichgültigkeit sich die Gesellschaft damit abfindet, dass im Zuge der Pandemie die Fundamente der sozialen Marktwirtschaft zertrümmert werden. Dabei ist es alles andere als eine Bagatelle, wenn das Wirtschaftssystem in Asche gelegt wird, das die Bundesrepublik nicht nur ökonomisch stark gemacht hat, sondern auch gesellschaftlich wie nichts anderes geprägt und bei allen Unterschieden auch geeint hat.

Es ist ein Kollateralschaden eines an sich erfolgreichen Kampfs gegen die Pandemie. Er dürfte weit mehr als nur den Wohlstand gefährden. Er schränkt auch die Chancen der Kindeskinder für ein besseres Leben ein. Richtigerweise kommt es für das Klima und gegen Rassismus zu Massendemonstrationen. Für die soziale Marktwirtschaft hingegen bleiben Protestmärsche aus. Niemand macht sich dafür stark – nicht einmal die Wirtschaftsverbände selbst.

Alle haben andere Sorgen. Man kämpft mehr oder weniger egoistisch ums eigene ökonomische Überleben. Vielleicht verteidigt man auch noch die Interessen der Branche oder der Region, der man angehört, aber nicht die soziale Marktwirtschaft insgesamt. Geeint ist man höchstens im gegenseitigen Streben nach Vorteilen zulasten Dritter, also um noch mehr staatliche Existenzgarantien, noch üppigere Konjunkturpakete und noch großzügigere Zuschüsse aus öffentlichen Kassen.

Es geht an der Stelle in keiner Weise darum, einen alten ideologisierten Kulturkampf „Markt“ gegen „Staat“ zu reanimieren. Es war und ist tiefes Selbstverständnis der sozialen Marktwirtschaft, dass nur ein starker Staat die Freiheit der Märkte sichern kann. Allein er ist in der Lage (und hat die hoheitliche Kompetenz), individuelle Grund- und Freiheitsrechte verlässlich zu garantieren. Willkür, Marktmacht und Machtmissbrauch sind zu verhindern, Wettbewerb zu ermöglichen und Menschen zu ermächtigen, ihre Potenziale auszuschöpfen.

Regierung und Politik haben vieles richtig gemacht

Der Staat soll öffentliche Güter, Daseinsvorsorge, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit effektiv organisieren, finanzieren und über Steuern und Sozialleistungen für mehr Gerechtigkeit sorgen.

Besonders während Krisen ist der Staat gefordert, schnell, sachgerecht und zweckmäßig als Nothelfer und Stabilitätsanker zu handeln. An der unverzichtbaren Notwendigkeit einer gut funktionierenden Staatlichkeit für ökonomischen Wohlstand und gesellschaftliches Wohlergehen bestanden und bestehen keine Zweifel – schon gar nicht in Zeiten einer Pandemie.

Da haben Regierung und Politik in den letzten Monaten einiges richtig und manches so gut gemacht, dass weltweit viele Deutschland um sein Krisenmanagement beneiden.

Das Loblied auf den Staat ist jedoch kein Freipass für einen Putsch gegen die soziale Marktwirtschaft. Finanz- und Geldpolitik sind dafür da, Konjunkturzyklen zu glätten. In Krisenzeiten spricht vieles für Zins- oder Steuersenkungen und zusätzliche Staatsausgaben wie im plakativ verkauften „Wumms“-Programm der Regierung, um die Nachfrage zu stimulieren. Mehr Konsum und Investitionen von Privat und Staat sollen für höhere Umsätze sorgen und so Produktion und als Folge davon Beschäftigung ankurbeln.

Sobald jedoch der Staat sich für einzelne Branchen und Konzerne besonders starkmacht oder sich gar an einzelnen Unternehmen beteiligt und beim operativen Tagesgeschäft mitentscheidet, fehlt es ihm an einschlägigen Fähigkeiten und Glaubwürdigkeit. Er vergisst, dass die Bevorzugung der einen immer bedeutet, alle anderen zu benachteiligen.

Es ist eine Tragödie, dass in den letzten Wochen die (Wirtschafts-)Politik in Deutschland die Absicht verfolgt, „whatever it takes“ die Ökonomie zu stabilisieren, und genau damit gefährdet, was sie vorgibt, retten zu wollen. Schuld daran ist der Verlust der Verhältnismäßigkeit.

Mit der Großspurigkeit ihrer nahezu unbegrenzten Finanztransaktionen untergräbt die Politik in der Bevölkerung jede Akzeptanz für die kleinen Opfer, die sie Einzelnen zum Wohle des Ganzen abfordert.

In der sozialen Staatswirtschaft der Pandemiezeit haben die Billionen die Milliarden in den öffentlichen Haushalten abgelöst. Da werden Millionen zu Nachkommastellen, und alles darunter wird zu Bagatellbeträgen degradiert.

Wie muss sich angesichts derartig gewaltiger Finanztransaktionen mit so vielen Nullen ein normaler Mensch fühlen, der tagtäglich zu einem einstelligen Nettostundenlohn schuftet, um den Alltag der Familie durch Eigenleistung finanzieren zu können?

Wie ernst genommen werden Tarifpartner, die bei Lohnverhandlungen tage- und nächtelang um Stellen weit hinter dem Komma feilschen, ob der Kompromiss für die einen noch tragbar und für die anderen noch akzeptabel sei.

Wie viel Verständnis darf noch erwartet werden, dass der gesetzliche Mindestlohn seit seiner Einführung 2015 bis 2020 um nur exakt zehn Prozent von 8,50 Euro auf mittlerweile 9,35 Euro gestiegen ist und weitere Erhöhungen auch weiterhin lediglich im Kriechgang erfolgen sollen, um die Wirtschaft nicht zu überfordern?

Wie reagieren Personen, die nun Hartz IV beantragen müssen, wenn ihnen bescheinigt wird, dass der Anstieg von 424 Euro auf 432 Euro das Maximum des Erträglichen für den Staatshaushalt gewesen sei und jenseits von Zuverdienstgrenzen jeder einzelne Euro zu verrechnen sei?

Wie gut ist die Stimmung in Firmen, die im Kampf ums alltägliche Überleben auf der Kostenseite um jeden Cent kämpfen, damit sie ihre Belegschaften halten und entlohnen können, wenn Konkurrenten (in anderen Branchen) mit Millionen, wenn nicht gar Milliarden unterstützt werden?

Wie weit wird die Großzügigkeit in Zukunft gehen?

Wem das große Ganze ein Anliegen ist, darf das Kleine, das Lokale, das Kommunale nicht aus dem Auge verlieren. Er muss auf die unsichtbare Hand der Märkte und nicht auf die steuernden und oft raffenden Hände der Politik setzen.

Individuelle Anstrengung und Leistung werden abgewertet, wenn die soziale Staatswirtschaft erst den Menschen bei jeder Gelegenheit Geld vom selbst verdienten Einkommen abknöpft, um es dann in Billionenhöhe über darbende Firmen oder Sektoren auszuschütten.

Selbstständige, Freiberufler, Kultur-, Handwerks- und Kleinstbetriebe oder Einpersonenfirmen empfinden es als unfair, wenn bei ihnen Steuern, Abgaben und Versäumnisgebühren auf Euro und Cent genau eingetrieben werden, aber vermeintlich systemrelevante Große eine Staatsgarantie für das Überleben erhalten. Beim Werben um Wahlstimmen werden doch zu Recht die Kleinen und der Mittelstand als Rückgrat der Wirtschaft gefeiert.

Vor allem aber: Wie weit eigentlich wird die Großzügigkeit in Zukunft gehen? Gilt auch morgen oder übermorgen das unbegrenzte Hilfsversprechen der sozialen Staatswirtschaft, wenn eine nächste Krise oder Pandemie Gesellschaft und Wirtschaft heimsuchen wird? Wenn nein, warum nicht? Sind die Versehrten der Zukunft nicht gleich zu behandeln wie die Opfer von heute? Wer die Büchse der Begehrlichkeiten öffnet, wird bei der Dämpfung künftiger Ansprüche in arge Schwierigkeiten geraten.

Die soziale Staatswirtschaft zersetzt Leistungsbereitschaft und schwächt damit die Leistungsfähigkeit. Der Unmut wird gären, die Steuermoral wird (weiter) schwinden, und das allgemeine Verständnis für das große Ganze wird verloren gehen. Das aber gefährdet nicht nur die soziale Marktwirtschaft.

Es dürfte grundsätzlich zu einer Erosion von Gemeinsamkeit und Solidarität führen – auch gegenüber der sozialen Staatswirtschaft. Erste Anzeichen dafür sind heute bereits erkennbar. Es ist höchste Zeit, innezuhalten, umzudrehen und zur sozialen Marktwirtschaft zurückzukehren. Nur sie garantiert nachhaltig den Wohlstand für alle.

 

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und Kuratoriumsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Der Artikel ist am 25. Juni auf welt.de erschienen.