Todestag
Queen Elisabeth II: Pflicht und Würde
Über sieben Jahrzehnte war Elisabeth II das Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs. Wer, wie der Verfasser dieser Zeilen, in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts geboren wurde, ist zeithistorisch sein ganzes bisheriges Leben von ihr begleitet worden, von der Kindheit bis zum angehenden Pensionsalter. Politisch war es im Mutterland des Liberalismus eine Zeit von 15 (!) Premierministern, beginnend mit dem Heroen des Zweiten Weltkrieges Winston Churchill, dessen Wertewelt noch tief im imperialen 19. Jahrhundert des britischen Weltreichs wurzelte, bis zu Liz Truss, die vor wenigen Tagen die Amtsgeschäfte übernahm. Wirtschaftlich und gesellschaftlich waren die sieben Jahrzehnte eine Zeit der beispiellosen Dynamik und der radikalen Veränderung der Britischen Inseln – vom Mutterland der Industrie hin zum Vorreiter der Globalisierung mit der Metropole London als weltweitem Magneten für Menschen und Kapital aus allen Kontinenten.
Großbritannien wurde in dieser Zeit auch zum Experimentierfeld eines tiefgreifenden Strukturwandels: von der gewerkschaftsdominierten Industriegesellschaft der sechziger und siebziger Jahre zum rauen Kapitalismus in der Thatcher-Ära und danach. Es wurde auch zum politischen Schlachtfeld der Diskussion um Europa: Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973, der Sieg der Pro-Europäer im Angesicht der Wachstumsschwäche des Vereinigten Königreichs im Vergleich zum Kontinent; aber schließlich Austritt nach 47 Jahren Mitgliedschaft aus der Europäischen Union 2020, der Sieg der Euroskeptiker mit der Vision, sich von angeblichen Brüsseler Fesseln zu befreien und zu einem „Singapore on Thames“ zu werden. Und nicht zu vergessen die Bedrohungen im Inneren: von den siebziger bis neunziger Jahren die Unruhen in Nordirland mit Fanatismus auf katholischer und protestantischer Seite; sowie 2014 das Referendum in Schottland über die Trennung vom Vereinigten Königreich, das nur recht knapp zugunsten des Verbleibs ausging.
Kurzum: eine durchaus dramatische Geschichte, auch und gerade mit Grundfragen von Verfassungsrang, wie wir in Deutschland sagen würden. Zu all dem hielt sich die Queen mit ihrer Meinung zurück. Manche Beobachter glaubten zu ahnen, was sie denkt, aber sie äußerte sich nicht. Sie wahrte strikte Neutralität. Und dies, obwohl sie wöchentlich beim Tee mit dem jeweiligen Premierminister Politisches erörterte und stets als hervorragend informiert galt. Sie hielt sich strikt an die Regeln der konstitutionellen Monarchie, obwohl gerade das Vereinigte Königreich über gar keine geschriebene Verfassung verfügt. Das tat der Reputation der Monarchie gut. Als Deutscher fragt man sich gelegentlich, ob es nicht auch hierzulande nützlich wäre, wenn sich das Staatsoberhaupt nicht ständig mit manchmal arg moralisierenden Beiträgen zu Wort meldete, die üblich geworden sind, seit Presse und Medien immer mehr „eigenes Profil“ eines Bundespräsidenten einfordern. Die Queen jedenfalls tat nichts dergleichen und fuhr gut damit.
Schwieriger für die Reputation der Monarchie waren da schon die privaten Rückschläge und Tragödien des Hauses Windsor – von den gescheiterten Ehen über den Tod Lady Dianas bis zu den Zerwürfnissen in jüngster Zeit. Vor allem nach dem tragischen Unfall von Diana machte die Queen auch Fehler, aber die wurden rechtzeitig korrigiert. Hinzu kam über die Jahre ein Mitgefühl der Menschen für die privaten Schicksalsschläge, die Elisabeth trafen, ein wenig wie bei dem Habsburgerkaiser Franz Josef rund ein Jahrhundert zuvor. Die Königin trug diese mit einer stoischen Haltung, die dann doch beeindruckte. Zuletzt war dies nach dem Tod ihres geliebten Mannes Prinz Philipp zu sehen. Sie sprach traurig von einem „void“, die der Abschied von ihm hinterlassen hatte, aber die Amtsgeschäfte gingen weiter.
Schon früh entstand eine globale Sympathie für Elisabeth II. Sie grenzt an Verehrung, wenn man die Kondolenzbekundungen gleich nach Ihrem Tod aus aller Welt zur Kenntnis nimmt. Dies gilt vor allem für die Nationen des Commonwealth, die sich von der Königin über Jahrzehnte verstanden und positiv begleitet fühlten, gerade weil sich die Monarchin erkennbar bewusst war, dass die Geschichte irgendwann ganz über die Reste des britischen Weltreiches hinweggehen würde.
In Deutschland war die Sympathie für die Queen gewaltig. In besonders berührender Form zeigte sich dies bei ihrem ersten Staatsbesuch im Mai 1965, der erste Besuch eines britischen Staatsoberhaupts seit 1909 (!), wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Im Rheinland gab es zum Teil schulfrei, und die Menschen säumten in Düsseldorf zu Abertausenden die Straßen und jubelten der Königin zu. Als sie dann mit einem Dampfer auf dem Rhein längsschipperte, standen am Ufer Transparente mit der Aufschrift: „Wir grüßen unsere Queen“. Die Begeisterung kam für viele Briten überraschend. Und die BBC stellte halb erfreut, halb pikiert fest: „Die Deutschen benehmen sich, als sei es ihre Königin“. Na ja, ein wenig war sie es auch: als Königin in einer großen konstitutionellen Monarchie, die den Wandel der Welt in Frieden und Freiheit pflichtbewusst und mit Würde begleitete.