UN-Vollversammlung
Die Entdeckung des globalen Südens
Nicht immer trifft der Bundeskanzler mit den Themen, Thesen und Tonlagen seiner Reden ins Schwarze. In dieser Woche gelang es ihm – vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Er adressierte dabei die Weltgemeinschaft, aber vor allem den globalen Süden.
Es war höchste Zeit, dies zu tun. Denn viele Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas verhalten sich mit Blick auf den Krieg gegenüber der Ukraine, den Wladimir Putins Russland vom Zaun gebrochen hat, auffallend neutral. Ihre Botschaft an den Westen: Dieser Krieg ist eine innereuropäische Angelegenheit, da halten wir uns raus. Genauso, wie Ihr im Westen Euch bei den meisten Konflikten innerhalb des globalen Südens raushaltet. Allerdings mit einem Unterschied: Ihr leidet nicht unter diesen Konflikten, gelegentlich profitiert Ihr sogar davon. Wir dagegen müssen als Folge von Krieg und Sanktionen in den Weltmärkten explodierende Preise für Energie und Nahrungsmittel zahlen. Und wir erhalten im Gegenzug keine Kompensation für unseren Wohlstandsverlust. Dahinter steckt ein schwerer Vorwurf: Der Westen betreibt moralisierenden Post-Kolonialismus. Ihr verlangt Solidarität, wenn es Euch in den Kram passt.
Dieser Deutung der Weltlage trat Olaf Scholz entgegen. Er nahm für den Westen in Anspruch, dass die Sanktionen gegenüber Putins Russland vor allem ein Ziel haben: die regelbasierte Weltordnung zu verteidigen. Und zwar nicht vor der Anarchie, die sonst herrschen würde, sondern gegenüber dem Recht des Stärkeren, das zum Kernbestand der imperialistischen Ideologie gehört. Scholz‘ Botschaft gegenüber dem globalen Süden lautet deshalb: Putin ist der Imperialist, weil er ein souveränes Nachbarland überfallen hat – mit dem Ziel der Vernichtung von dessen Identität. Und die Bevölkerung der Ukraine führt einen tapferen anti-imperialistischen Verteidigungskampf. Sie verdient Unterstützung, auch von Euch.
Olaf Scholz hat Recht. Aber Recht haben und andere überzeugen, das sind unterschiedliche Dinge. Der globale Süden misstraut dem Westen – kein Wunder nach Jahrhunderten der Kolonialgeschichte, aber erst einigen Jahrzehnten der Fortschritte zu einer multilateralen Ordnung, die auch nur in Ansätzen funktioniert. Glaubwürdigkeit entsteht eben nicht durch Worte, sondern allein durch Taten. Daran fehlt es. Das muss sich ändern. Dies gilt vor allem für das wirtschaftliche Engagement des Westens im globalen Süden. Drei Forderungen liegen dabei auf der Hand:
Erstens: Der Westen muss endlich mit neuen fairen Handelsverträgen dafür sorgen, dass der globale Süden stärker als bisher von der Globalisierung profitiert. Das ist bisher nicht geschehen. So liegt zum Beispiel das Handelsabkommen von EU und MERCOSUR, der lateinamerikanischen Freihandelszone (Mercado Común del Sur), längst fertig auf dem Tisch, wurde aber von den EU-Ländern wegen ökologischer Bedenken nicht ratifiziert, u.a. weil nicht genug Schutz für den tropischen Regenwald vorgesehen ist. Ergebnis: China hat die Nase vorn in der Handelspartnerschaft mit Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Und weit fortgeschritten ist auch die MERCOSUR-Handelsintegration mit Russland, das zum Beispiel 80 Prozent des Kunstdüngers von Brasilien liefert. Hier gilt es, neue Prioritäten setzen, wenn der Westen seine geopolitischen Ambitionen zur Stärkung einer multilateralen Weltordnung ernst nimmt.
Zweitens: Der Westen – und allemal die EU – muss politisch eine Offensive der Investitionen in den globalen Süden in den Blick nehmen. Dies gilt zum Beispiel für Afrika – jenem Kontinent, in dem noch immer die Ströme europäischer Direktinvestitionen in hohem Maße traditioneller imperialer Einflusszonen folgen, etwa was die Verbindungen zu Frankreich und Großbritannien betrifft. Das dabei entstehende Vakuum hat längst China besetzt – mit massiven staatlich gelenkten Investitionen in lokale und regionale Infrastruktur, die eine starke Abhängigkeit des Kontinents von China bewirkt. Ohne eine neue aktive Afrikapolitik – von Brüssel gesteuert – fehlt den moralischen Appellen für eine neue regelbasierte Weltordnung jede wirtschaftliche Basis.
Drittens: Die deutsche Industrie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend abhängig gemacht von russischer Energie und chinesischen Märkten. Hier muss es eine tiefgreifende Umorientierung geben. Bei der Energie läuft dieser schmerzhafte Prozess gerade an – mit der Abnabelung von Russland. Bei der Verflechtung mit China stehen wir erst in den Anfängen. Hier wird sich die Frage stellen, ob nicht gerade südostasiatische Nachbarländer von China als Investitionsstandorte geeignet sind, um die Vorteile der Globalisierung zu nutzen, ohne allzu stark von autokratisch-totalitären Regimen abhängig zu werden.
Fazit: Olaf Scholz hat mit seiner Rede vor der UN einen wichtigen ersten Schritt getan, um im globalen Süden um Vertrauen zu werben. Aber das wird nicht reichen, denn neben die Softpower der Diplomatie müssen die harten Fakten der wirtschaftlichen Integration treten. Ohne intensiveren Handel und den Aufbau komplexer Wertschöpfungsketten bleiben die freundlichen Worte Gesten ohne Gewicht. Der Weg einer neuen Welle der Globalisierung liegt noch vor uns. Er muss schnellstmöglich erkennbar werden, sonst lässt sich der globale Süden nicht für eine regelbasierte Weltordnung gewinnen.