Freiheit +90
Von der Telefonzelle zur Unternehmernation: Die Entwicklung der türkeistämmigen Gemeinschaft in Deutschland

Jeden Sonntag grüßt das Murmeltier, jahrelang. Mit Mutter oder Vater in die gelbe – und sehr oft nach Zigaretten stinkende – Telefonzelle um die Ecke rüberlaufen, 5 Mark Münze einschmeißen, auf das Freizeichen warten und dann die Nummer wählen. Dabei die kleinen Tasten schön langsam und fest drücken. 0 0 90 2 1 2 und so weiter. Die Vorwahl erst für die Türkei und dann für Istanbul konnten recht problemlos eingetippt werden. Für die weitere Zahlenabfolge musste Vater in sein kleines Heftchen schauen, die er immer bei sich trug.
Es klappte nicht immer beim ersten Mal – entweder konnte die Leitung nicht hergestellt werden oder die Verwandten in der fernen Türkei gingen nicht ans Telefon. Dann hieß es: Ruhe bewahren, ein zweites Mal versuchen und dabei die Tasten noch fester drücken als beim ersten Mal. Irgendwann würde es schon klappen.
Manchmal kam es auch vor, dass eine andere Familie bereits in der Telefonzelle war und mit ihren Verwandten in der fernen Heimat sprach. Das bedeutete für mich und meine Eltern: Geduldig draußen in der Kälte oder im Regen warten und darauf hoffen, dass die Wartezeit nicht allzu lang wird.
So sah mein typischer Sonntag als kleines Kind Ende der 80er und Anfang der 90er aus. Ein festes Familienritual sozusagen. Und wahrscheinlich sah der Sonntag für viele andere Kinder mit Migrationshintergrund ähnlich aus. Die Zahlenkombination 0 0 90 hat sich dabei fest in die Erinnerungen mehrerer Generationen von Menschen mit Wurzeln in der Türkei eingebrannt. 0 0 90 hieß für sie für einen kurzen Moment Wärme, Vertrautheit und die Sehnsucht nach der alten Heimat in der fernen und kalten neuen Heimat Deutschland.
Über dreißig Jahre ist das nun her. Heute geht niemand mehr in die Telefonzelle, und Menschen mit Türkei-Hintergrund sind mehr als sechzig Jahre nach der Unterzeichnung des ersten Anwerbeabkommens eine zahlenmäßig starke sowie wirtschaftlich und politisch aktive Gemeinschaft, die einen festen und wichtigen Bestandteil der deutschen Gesellschaft darstellt. Das alteingesessene Bild des Gastarbeiters, der tief in der Zeche nach Kohle schuftet oder in der Dönerbude um die Ecke arbeitet, spiegelt schon lange nicht mehr die heutige Realität wider: Nach Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung beschäftigen rund 75.000 Unternehmen mit türkischen Wurzeln knapp 400.000 Menschen und erzielen einen Jahresumsatz von knapp 35 Milliarden Euro. Diese Menschen haben heute einen kreativen oder akademischen Beruf, sind als Arbeitgeber und Unternehmer tätig, beschäftigen zahlreiche Menschen, sind Teil der Exportnation Deutschland und tragen damit kräftig zum Bruttosozialprodukt dieses Landes bei.
Doch der liberale Unternehmergeist und die wirtschaftsliberale Einstellung vieler dieser Menschen bedeutet jedoch noch lange nicht, dass der politische Liberalismus auch automatisch die politische Heimat dieser Menschen wäre. Einer Studie zufolge kommt die FDP unter Bürgern mit Migrationshintergrund bislang nur auf sehr niedrige Zustimmungswerte. Doch eine neuere Studie zeigt auch, dass viel Wählerpotential bislang einfach liegengelassen wurde. Der Frage, wieso das so ist und was der politische Liberalismus in Zukunft anders machen muss, um für diese Zielgruppe attraktiver zu werden, wollen wir mit der Reihe Freiheit+90 nachgehen.
Unterschiedliche Aktivitäten des Istanbuler FNF-Büros, die deutsch-türkische Beziehungen allgemein und das Verhältnis der in Deutschland lebenden Menschen mit Türkei-Bezug zum Liberalismus thematisieren, werden ab jetzt unter Freiheit+90 zu finden sein.
Beginnen werden wir Freiheit+90 mit einem wertvollen Beitrag von Dr. Yasar Aydin, der als Forscher am Centrum für Angewandte Türkei-Studien der SWP tätig ist. Aydin ordnet die türkische Diaspora historisch, wirtschaftlich sowie soziologisch ein und bietet damit einen herausragenden Startpunkt für zahlreiche Porträts von in Deutschland lebenden Menschen mit Türkei-Hintergrund, die in den kommenden Wochen unter Freiheit+90 erscheinen werden.
Ich hoffe, Sie werden Gefallen an Freiheit+90 finden. Bleiben Sie dran!
Aret Demirci
Projektleiter Türkei